Perspektivwechsel um 180 Grad

Monika Albrecht stellt in ihrer Studie „‚Europa ist nicht die Welt‘. (Post)Kolonialismus in Literatur und Geschichte der westdeutschen Nachkriegszeit“ die These einer „kolonialen Amnesie“ in Frage

Von Jan SüselbeckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Süselbeck

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es ist tatsächlich schon vorgekommen, dass ein Kollege aus der Literaturwissenschaft beim Mittagessen äußerte: „Postcolonial Studies? Es ist doch nicht verwunderlich, dass dieser Ansatz hierzulande kaum verfolgt worden ist. Schließlich war Deutschland auch nie eine wichtige Kolonialmacht!“

Da sage noch einer, das Theorem einer „kolonialen Amnesie“ in der deutschen Kultur sei aus der Luft gegriffen. In einem Artikel zur mangelnden kritischen Auseinandersetzung mit dem deutschen Kolonialismus, der im November in der Berliner Wochenzeitung „Jungle World“ anlässlich des 125. Jahrestags der „Berliner Afrika-Konferenz“ von 1884 erschien, heißt es dazu treffend: „Selbst in der aufgeklärten deutschen Öffentlichkeit fehlt nach wie vor das Bewusstsein dafür, dass Deutschland nicht nur eine postfaschistische, sondern auch eine postkoloniale Gesellschaft ist. Eine Gedenkkultur im Hinblick auf die Opfer der Verbrechen des deutschen Kolonialismus in Afrika, in China und im pazifischen Raum existiert nicht. Der Soziologe Reinhard Kößler spricht von einer ‚öffentlichen Amnesie‘.“

Doch genau diese These eines deutschen ‚Vergessens‘ der eigenen Kolonialgeschichte und eigener Kolonialverbrechen, die bereits vor etwa 10 Jahren von der US-amerikanischen Literaturwissenschaftlerin Susanne Zantop diskutiert wurde, möchte Monika Albrecht in ihrer Studie „‚Europa ist nicht die Welt‘. (Post)Kolonialismus in Literatur und Geschichte der westdeutschen Nachkriegszeit“ widerlegen. Um das mögliche Erstaunen des Lesers an dieser Stelle noch auf die Spitze zu treiben: Es ist ein klar durchargumentiertes Buch, voller erhellender Textbeispiele und gut informierter Einwürfe in die internationale Diskussion der Postcolonial Studies – mithin eine Untersuchung, die die deutschsprachige Literaturwissenschaft auf diesem Gebiet ein gutes Stück weiter bringt.

Albrechts Ausgangshypothese lautet, dass es gerade in den als besonders reaktionär und restaurativ geltenden 1950er-Jahren in Deutschland keineswegs einen Mangel an der Präsenz kolonialer Themen in der Öffentlichkeit gegeben habe. Dies versucht die in Irland lehrende Literaturwissenschaftlerin mit einer akribischen Durchsicht vor allem dreier angesehener Zeitschriften der 1950er- und 1960er-Jahre zu belegen: Sie hat intensiv im damaligen „Spiegel“ gelesen, aber auch in den „Frankfurter Heften“ und im „Merkur“, der sogenannten „Zeitschrift für europäisches Denken“, die den heute aus dem Umfeld der Postcolonial Studies gerne erhobenen Vorwurf des „Eurozentrismus“ schon in ihrem Untertitel nahe legt.

Dabei fördert Albrecht zunächst einmal vielfältige publizistische Formen des Rassismus zu Tage – zum Beispiel anhand der Illustrationen im „Spiegel“, die afrikanische Politiker oft in übelster Weise diffamierten und als „dunkle Gentlemen“ lächerlich zu machen versuchten. Gleichzeitig aber tauchen selbst in dieser Zeitschrift, in deren Redaktion es in jener Ära von Nazis nur so wimmelte, vergleichsweise ‚politisch korrekte‘, ja kolonialkritische Artikel auf – auch wenn Albrecht ihre diesbezüglichen Fundstücke manchmal vielleicht zu triumphierend hochhält oder den Uneindeutigkeiten solcher im Einzelfall doch nicht ganz so ‚antirassistischer‘ Texte etwas zu viel Verständnis entgegenzubringen scheint.

Fragwürdig mutet es etwa an, ob die Redakteure des renommierten Nachrichtenmagazins wirklich so gewieft agierten, in der ersten Hälfte ihrer Texte ‚geschickt‘ den rassistischen Publikumsgeschmack zu bedienen, um die Leser ‚in den Text zu ziehen‘ und dann plötzlich auf eine kolonialkritische Argumentation umzuschwenken. Genau dies beobachtet Albrecht jedoch vielfach und plädiert deshalb dafür, „auf den ersten Blick dubios klingende Artikel nicht allzu voreilig zu verurteilen“. Ganz abgesehen von der journalistischen Fragwürdigkeit derartiger ‚Tricks‘ scheinen solche Beobachtungen doch eher die These nahezulegen, dass sich diese Autoren in einer Zeit des langsamen Umdenkens befanden und dabei selbst noch nicht in der Lage waren, die Konventionen ihres Sprechens und Schreibens über die ‚Anderen‘ konsequent zu reflektieren. So konnten etwa Koreaner 1948 im „Spiegel“ zu Beginn eines Artikels ganz selbstverständlich als „schlitzäugige Halbinsulaner“ vorgestellt werden, während der restliche Text Korea als Spielball der Supermächte im Kalten Krieg darstellt – und nicht etwa als rechtmäßig kolonialisiertes Terrain.

Das ändert nichts daran, dass Albrecht auch aus den anderen genannten Zeitschriften teils ganz bemerkenswerte Funde zutage fördert. So erscheint etwa der Redakteur der „Frankfurter Hefte“ Walter Maria Guggenheimer als progressiver Journalist, der die nach dem Zweiten Weltkrieg lebendig gebliebene Verquickung von Antikommunismus, Kapitalismus und Kolonialismus in seinem Artikel „Der Kolonialismus stirbt nicht“ von 1954 bündig analysierte. Auf der anderen Seite kann Albrecht aber auch zeigen, dass die rassistischen Texte aus jener Zeit den Niedergang französischer und britischer Kolonialreiche in Afrika und in Asien äußerst wachsam kommentierten. Sie konnten dabei in Anspielungen auf die deutsche, angeblich klügere Kolonialpolitik vor 1918 auf das Vorwissen und das stillschweigende Einverständnis eines Leserpublikums setzen, das diese Ära keineswegs vergessen, sondern im Gegenteil offensichtlich sehr präsent hatte. Alles in allem wird bei Albrecht klar, dass schon allein aufgrund der reichhaltigen und widersprüchlichen journalistischen Publizistik zum Thema von einer ‚kolonialen Amnesie‘ in jener Phase der Nachkriegszeit in Deutschland tatsächlich keine Rede sein kann.

In der zweiten Hälfte der Arbeit baut Albrecht diesen Befund weiter aus, indem sie sich der kolonialen Thematik in der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur zuwendet. Hierbei geht es ihr vor allem um Max Frisch, Wolfgang Koeppen, Alfred Andersch und – im Rückgriff auf einen wunderbaren früheren Aufsatz, den Albrecht bereits vor einigen Jahren publizierte – um Arno Schmidt. Allen diesen Autoren, denen bereits vielfach rassistische Stereotypen vorgeworfen und auch nachgewiesen werden konnten, lässt Albrecht im Sinne ihrer Thesen äußerst differenzierte Interpretationen angedeihen und nimmt die Schriftsteller als skeptische Kommentatoren kolonialer Diskurse ihrer Zeit dezidiert ernst.

Besonders verblüffend gelingt ihr dies bei Koeppen, wobei es schön zu sehen ist, wie Albrecht in ihrer Auseinandersetzung mit den Critical Whiteness Studies eigene Koeppen-Lektüren wiederholt und dabei erstaunt feststellt, dass dieser Autor bereits in seinem Roman „Tauben im Gras“ (1951) Erzählstrategien vorantrieb, die ihn im Rückblick „sozusagen zu einem Vordenker der Whiteness Studies“ avancieren lassen könnten. Hier geht es bei Albrecht kurz gesagt darum, dass die Literaturnobelpreisträgerin Toni Morrison einmal die Konvention bemängelte, dass schwarze Figuren in der Literatur der westlichen Kultur stets als solche bezeichnet und explizit eingeführt würden, während man weiße Figuren dort immer zweifelsfrei daran erkennen könne, dass über ihre Hautfarbe im Text gar nichts gesagt werde.

Daraufhin hat Albrecht den Roman „Tauben im Gras“, in dem zwei schwarze GIs auftreten, noch einmal auf die genauen Figurencharakterisierungen hin durchgesehen und festgestellt, dass Koeppen das von Morrison kritisierte stereotype Verfahren hier geradezu konterkariert: Während Koeppen die explizite Nennung der Hautfarbe zumindest einer seiner schwarzen Figuren besonders lange hinauszögert, werden alle weißen Figuren in seinem Text immer sofort als solche beschrieben und benannt, und zwar oft auch noch auf äußerst unvorteilhafte Weise. Albrecht sieht aber davon ab, Koeppen deshalb gleich zum ‚Propheten der Whiteness Studies‘ zu ernennen und streicht stattdessen heraus, dass jenes stolze Bewusstsein von dem Vorhandensein einer „weißen Rasse“, das die Whiteness Studies in den heutigen USA für ein verdrängtes Phänomen halten, in den 1950er-Jahren in Deutschland durchaus noch vorhanden war und deshalb auch durch Romane wie die Koeppens oder auch Arno Schmidts geisterte. Um diese Texte der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur zu interpretieren, reichen die Postulate von Theorien, die vor dem US-amerikanischen Hintergrund entstanden sind, also schlichtweg nicht hin. Gleichzeitig schmettert Albrecht aber auch die Kritik ab, Koeppens Roman „Tauben im Gras“ sei aufgrund der stereotypen Beschreibungen der US-GIs, die in ihm vorkommen, rassistisch. Kann sie doch zeigen, dass alle diese diskriminierenden Äußerungen aus den Mündern äußerst negativ gezeichneter deutscher Figuren stammen, die Koeppen also durch ihre rassistische Rede entlarven möchte. Er reagierte demnach in seinem Roman auf die spezifisch deutsche Gesellschaftssituation, die daraus entstand, dass man im Nationalsozialismus den Begriff der „Rasse“ in genau dem Moment wiederbelebte, in dem ihn die restliche Welt als Konstrukt zu verabschieden begann. Den daraus resultierenden, durch und durch von einem geradezu trotzigen Rassismus geprägten gesellschaftlichen Konsens mit seinen offensichtlichen NS-Kontinuitäten hatte man in den 1950er-Jahren, als Koeppen seinen Roman schrieb, noch lange nicht überwunden. Und genau dies zeigt Koeppen: Deutsche Figuren, die mit dem Begriff der „Rasse“ nicht in erster Linie die „Anderen“ bezeichnen, sondern vor allem von sich selbst und der „Solidarität der weißen Rasse“ sprechen, um einen aus der deutschen Kolonialzeit stammenden Sonderstatus der ‚überlegenen weißen Rasse‘ lautstark für sich zu reklamieren und damit die Rückgängigmachung ihrer sozialen ‚Degradierung‘ nach 1945 einzuklagen. Albrecht korreliert diese Textbeobachtung mit dem „whiteness as property“-Theorem, das Wissenschaftler aus dem Umfeld der Whiteness Studies aufgestellt haben: Demnach sind es gerade und besonders die besitzlosen Weißen, die ihr Weißsein häufig als ureigene Form des Reichtums empfinden und auf Grund dessen vehement eine rassistisch begründete Machtposition gegenüber anderen Ethnien behaupten wollen.

An diesem Beispiel lässt sich nebenbei auch gut zeigen, dass Albrechts These, die „koloniale Amnesie“ hätte es in Deutschland in jener Zeit überhaupt nicht gegeben, nicht etwa so misszuverstehen ist, dass die Autorin das heute mitunter tatsächlich feststellbare ‚Vergessen‘ deutscher Kolonialverbrechen mit ihrer Argumentation etwa verharmlosen wolle. Im Gegenteil dienen ihre Einschärfungen des Blicks auf die publizistischen und literarischen Kolonial-Diskurse der 1950er-Jahre einer genaueren Analyse der damaligen deutschen Situation, die sich eben nicht nur durch die Verdrängung, sondern im Gegenteil sogar durch die offensive Fortschreibung rassistischer Denkmuster in der öffentlichen Rede auszeichnete, die wiederum von einzelnen zeitgenössischen Autoren und Journalisten frühzeitig als solche erkannt und explizit kritisiert werden konnten.

Nicht zuletzt macht Albrecht in diesem Zusammenhang klar, dass eine wissenschaftliche Rehabilitierung des Begriffs „Rasse“, wie ihn heute die Whiteness Studies propagieren, in Deutschland vollkommen kontraproduktiv wäre, da man es nun endlich geschafft hat, ihn hierzulande wirksamer zu problematisieren, als dies noch in der unmittelbaren Nachkriegszeit der Fall war: „Wenn Realität und Bedeutung in der ‚ständig wiederholenden und zitierenden Praxis‘ zuallererst geschaffen werden, dann ist nicht die Wiedereinführung, sondern die Ächtung dieses Begriffs ein wichtiger erster Schritt zu einer Gesellschaft ohne ‚Rassen‘“, gibt Albrecht zu bedenken.

Dass also auch die Postcolonial Studies im Blick auf die deutschsprachige Literatur meist erst einmal kritisiert werden müssen, um zu zeigen, wie wenig manche ihrer Theoreme der hiesigen Situation gerecht werden können, demonstriert Albrecht nicht zuletzt an dem schlagenden Beispiel der Autorin Marie Luise Kaschnitz. Wenn diese in ihrem befremdlichen Text „Ekstase in Afrika“ aus dem Band „Engelsbrücke“ (1955) mittels eines exotistischen Blicks auf sudanesische Tanzrituale von Frauen unterstreichen möchte, dass die Frauen in Europa besser in ihren traditionellen Rollen verharren sollten, um nicht wie diese ‚armen Afrikanerinnen‘ in ihren 'gefährlichen' geschlechtlichen Maskeraden und Travestien, verstanden als veritable „Unterweltfahrten“, ihr psychisches Gleichgewicht zu verlieren oder gar umzukommen – so konfrontiert Albrecht diese frappierende Beobachtung mit einer ‚kulturbewahrenden‘ Argumentation des indischen Historikers Dipesh Chakrabarty, der traditionelle indische Geschlechterrollen gegenüber dem ‚eurozentrischen‘ Blick als „Stimmen der Ambivalenz“ in Schutz nehmen und in ihrer ‚Würde‘ verteidigen möchte.

Am Beispiel von Kaschnitz kann Albrecht zeigen, dass auch im Westen die Emanzipation der Frau nicht immer gegeben war, sondern erst einmal hart gegen reaktionäre Stimmen wie die von Kaschnitz erkämpft werden musste. Würde man Chakrabartys Position jedoch auf Kaschnitz anwenden, so könne man ihren Text nicht mehr innerkulturell als antiemanzipatorische Geschlechterkonstruktion kritisieren, sondern müsste ihn plötzlich als Ausdruck einer weiblichen Subjektposition ernst nehmen, die sich gegen die ‚koloniale‘ und ‚eurozentrische‘ Oktroyierung progressiver feministischer Diskurse wehrt, wie sie Chakrabarty als „westlich“ festschreibt: „Denn wer beispielsweise den Emanzipationsgedanken im kolonialen Indien als einen der indischen Kultur fremden Import der Briten betrachtet, essentialisiert nicht nur die eigene, sondern auch die westliche Kultur“, kritisiert Albrecht.

Solche fragwürdigen Essentialisierungen problematisiert Albrecht mit ihrem Beispiel aus dem Werk von Kaschnitz als Nahelegung ‚doppelter Standards‘, die nicht nur interkulturelle, sondern vor allem auch innerkulturelle Konflikte von Frauenbildern ausblenden helfen, die es gerade genauer herauszuarbeiten und zu kritisieren gelte. Hier gehe es eben nicht nur um Konflikte entlang der Geschlechtergrenze oder auch entlang kultureller Barrieren. Vielmehr ist Kaschnitz ein Beispiel für eine Frau, die mittels der literarischen Vereinnahmung einer fremden Kultur gegen die eigene Emanzipation anschrieb, weil sie dadurch gewisse Privilegien weißer Frauen in einer weißen Kultur besonders anschaulich verteidigen zu können glaubte und zeitgenössische Gegenstimmen wie die Simone de Beauvoirs mit ihrer bahnbrechenden Studie „Le Deuxième Sexe“ (1949), die den Konstruktionscharakter der Geschlechtsidentität herausarbeitete, zu konterkarieren versuchte.

Albrechts Buch vermittelt mit solchen erhellenden Beispielen eine Ahnung davon, wie viele neue Blickwinkel gerade die kritische Auseinandersetzung mit internationalen Theorien der Postcolonial Studies oder auch der Whiteness Studies auf die deutschsprachige Literatur eröffnen kann. Weder kann es darum gehen, im Sinne kultureller Essentialisierungen endlich etablierte Formen der Kritik einfach wieder unter den Tisch fallen zu lassen – noch darum, Literatur eindimensional als Tradierungsform kolonialer oder rassistischer Stereotypen zu ‚enttarnen‘ und damit ein für allemal zu ‚erledigen‘. Man muss im Einzelfall eben genauer hinsehen, um zu erkennen, dass Literatur immer auch subversiv wirken und Alternativen zu kolonialen Weltdeutungsmustern aufzeigen konnte. Die ‚kontrapunktische‘ Relektüre solcher Texte sollte also nicht etwa neuen und kurzschlüssigen Festschreibungen dienen, sondern dazu, mittels von ‚Perspektivenwechseln um 180 Grad‘ „vermeintlich gesicherte Denkfiguren in ein neues Licht zu stellen“, wie Albrecht es gegen Ende ihrer Studie formuliert. Dies ist ihr in ihrem eigenen Buch schon einmal auf erfrischende Weise gelungen.

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Monika Albrecht: "Europa ist nicht die Welt". (Post)Kolonialismus in Literatur und Geschichte der westdeutschen Nachkriegszeit.
Aisthesis Verlag, Bielefeld 2008.
310 Seiten, 40,00 EUR.
ISBN-13: 9783895286964

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