Scham und Schande

Seyran Ates' Streitschrift für einen anderen Islam

Von Hans Peter RoentgenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Hans Peter Roentgen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Als ich etwa fünfzehn war, verhinderte mein ältester Bruder, dass ich eine Hose bekam, die hinten einen Reißverschluss hatte (der letzte Schrei damals). Mir war sofort klar, dass es daran lag, dass mein Po dadurch zu sehr betont wurde. Aber niemand sprach das aus. Mein Bruder sagte nein, und meine Eltern gehorchten ihm. Sie fanden es gut, dass er auf die Ehre und Moral seiner Schwester achtete. Die deutschen Freundinnen meines Bruders trugen solche Hosen. Das war für ihn natürlich etwas anderes. Ich erinnere mich noch heute, wie sich damals die Scham einstellte, die mich lange begleiten sollte. Die Scham darüber, ein Mädchen zu sein.“

Seit etlichen Jahren radikalisiert sich der Islam, die Kopftücher, die früher kaum zu sehen waren, haben überhand genommen – und finanziert von Saudi-Arabien hat die extrem orthodoxe wahabitische Auslegung einen Siegeszug angetreten. Doch immer schon war für den Islam vieles „ayib“, also unanständig, was Mädchen und Frauen betraf. Ates bringt eine Fülle von Material, Berichte von Muslimen, Zitate aus Koranauslegungen, die drakonischen Strafen, wenn ein Mädchen die Regeln nicht beachtet. Das ist nicht neu, einzelnes hat man geahnt, hier oder dort schon etwas darüber gelesen.

Neu ist, dass es Ates einmal konsequent zusammengestellt hat. Dass sie es auszusprechen wagt, denn Sex und Islam, darüber spricht man nicht. Nicht als Muslim, weil es eben „ayib“ ist, nicht als Nichtmuslim, um die Gefühle der Muslime nicht zu verletzen. Leider muss es ausgesprochen werden. Denn gerade die Tatsache, dass es unter den Teppich gekehrt wird, lässt es gären. Wer nicht über Sex sprechen mag, wittert bald überall Sex, sexualisiert alles. Viktorianische Ladies legten angeblich Tischdecken auf, die bis zum Boden reichten, damit man die Beine nicht sah – und sich dabei etwas schlechtes dachte.

Seit die Kopftüchermengen und die Verschleierungen in Kairo zugenommen haben, nehmen sexuelle Belästigungen in der Öffentlichkeit zu. Dabei wird das Kopftuch damit verteidigt, dass es verhindere, dass Männer an Sex denken und sich von ihren Hormonen überwältigen lassen. Ich bin nicht für Sex zu haben, soll das Kopftuch sagen, doch offenbar sagt es etwas ganz anderes. Auch die verdeckten Tischbeine haben nicht verhindert, dass in den puritanischen Gesellschaften des 19. Jahrhunderts alles sexualisiert wurde. Hinter allem und jedem witterten die Moralhüter sexuelle Anspielungen.

Ates macht nicht wie viele den Fehler, dieses allein dem Islam zuzuschreiben. Ausführlich erzählt und begründet sie, dass das Deutschland vor ‘68 ebenso prüde war. Viele Mädchen durften in der Schule nur Röcke tragen, die Mütter waren fest davon überzeugt, dass die Töchter nur „rein“, also unberührt, einen Mann finden würden. Und dass jeder als Grillhähnchen in der Hölle landen würde, der gegen die rigiden Sexregeln verstieß. Hier auf Erden würde ihm vorher noch als gerechte Strafe das Rückenmark dahinschmelzen und seine Haut fahl werden.

Katholizismus und Islam haben mehr miteinander gemein, als so mancher wahrhaben will. Nur hat der Katholizismus sich seit ‘68 emanzipiert, kaum ein Katholik lässt sich heute vorschreiben, ob er Verhütungsmittel benutzen darf. Dass eine christliche Partei schwule Ministerpräsidenten duldet, wäre vor ‘68 völlig undenkbar gewesen. Damals stand auf Homosexualität Gefängnisstrafe, wie heute immer noch (oder schon wieder) in vielen islamischen Ländern.

Und genau wie im Islam gab es in der prüden Bundesrepublik eine Doppelmoral, eine Pflicht, nicht darüber zu reden, das, was offiziell jeder tat und das, was die Meisten denn doch taten. Die Pflicht der Frauen, ihre „ehelichen Pflichten“ immer und überall über sich ergehen zu lassen, war sogar gesetzlich festgeschrieben.

Mit zahlreichen Vorurteilen räumt die Autorin auf, etwa der vom sinnenfrohen Islam. Zwar findet sich davon tatsächlich das eine oder andere im Koran, im Alltag der meisten Muslime sieht es aber ganz anders aus. Interessant, dass nicht nur orthodoxe katholische Theologen in jeder Frau den Teufel sahen, sondern auch viele muslimische Männer ähnliche Assoziationen hegen.

Diese rigide Moral in Tateinheit mit dem Schweigen verhindert auch Emanzipation und Demokratie, davon ist Ates überzeugt. Oswald Kolle hat in den 1960er-Jahren, Sheron Hite in den 1970ern das Tabuthema Sex öffentlich gemacht. Der Islam braucht heute ähnliches, um sich zu emanzipieren. Erscheint das manchem illusorisch? Dann möge er sich daran erinnern, wie illusorisch es Anfang der 1960er-Jahre gewesen wäre, auf ein Deutschland zu hoffen, in dem Homosexuelle sogar Ministerpräsidenten und Parteivorsitzende werden können. Gesellschaften und Religionen wandeln sich. Heute argumentieren selbst orthodoxe Islamseiten im Internet mit dem Koran gegen Zwangsheiraten. Ob das immer ehrlich gemeint ist, sei dahingestellt – aber es gibt zumindest Mädchen, denen die Zwangsverheiratung droht, Argumente in die Hand. Und Seyran Ates ist beileibe nicht die einzige Deutsch-Türkin, die es wagt, anzusprechen, was lange unter dem Teppich blieb.

Das Buch ist wichtig, weil es ein Tabu bricht. Weil es endlich einmal in der Öffentlichkeit zusammenstellt, was immer gerne verschwiegen wird. Weil es Mut macht.

Peinlich sind, wie immer bei diesem Thema, die Reaktionen. In den Leserforen der „Welt“ polemisieren Rechte aus Anti-Islam Seiten, dass eine Türkin hier in Deutschland nichts zu sagen habe. Der CDU Politiker Bülent Arslan meint, dass Ates Geld in der „Islamophobie“-Industrie verdiene. Offenbar hat sich die Autorin seiner Meinung nach von Bülents Glaubensgenossen beinahe ermorden lassen, um reich zu werden.

Titelbild

Seyran Ates: Der Islam braucht eine sexuelle Revolution. Eine Streitschrift.
Ullstein Verlag, Berlin 2009.
220 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783550087585

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch