Das Sommerland der russischen Seele

Über Marina Rumjanzewas „Auf der Datscha“

Von Rolf-Bernhard EssigRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf-Bernhard Essig

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Für viele Deutsche ist Russland gleichzeitig ein Traum- und ein Alptraumland. So pointiert hat es Georg Klein einmal formuliert. Schon deshalb gibt es immer wieder Versuche, den großen Nachbarn im Osten zu verstehen. Manche fahren mit dem Fahrrad durchs Land und machen dabei viel bessere Erfahrungen, als man sie nach Medienberichten erwarten dürfte. So tat es jüngst Christoph Brumme, aus dessen klugem Buch „Auf einem blauen Elefanten“ man ein detailreiches und durchweg überraschendes Bild gewinnt. Ein Kernbereich der russischen Seele, gleichsam ihr Sommerland, kommt dabei nur am Rande vor: die Datscha.

Über die Ostdeutschen hat sich der Begriff auch im Westen verbreiten können, doch die Sache selbst hat nur in Russland eine einzigartig lange, eigene und bedeutende Tradition. Wie bedeutend, lässt sich in Marina Rumjanzewas kenntnisreichem Buch „Auf der Datscha“ lesen. Tatsächlich ist es, wie der Titel verrät, „Eine kleine Kulturgeschichte und ein Lesebuch“, wobei sich beides auf eine schöne Weise vermischt. Der historische Teil steckt nicht nur voller Fakten, er unterhält in angenehmen und klaren Worten. Und der Lesebuchteil unterhält nicht nur mit Texten von Alexander Puschkin über Anton Tschechow bis heute, sondern steckt ebenso voller Fakten.

Ein Dutzend Generationen sind inzwischen mit der Datscha aufgewachsen, wobei die Sache sich im Lauf der Zeiten natürlich wandelte. Garantiert werden jedenfalls viele Russen mitseufzen – fröhlich, melancholisch, sehnsüchtig – wenn sie im Buch einen Text Tatjana Tolstajas lesen: „Im Anfang war der Garten. Die Kindheit war der Garten.“ Denn dann denken alle an ihre Datscha-Erfahrungen.

Am Anfang stand Peter der Große. Er ließ zwischen St. Petersburg und seiner Sommerresidenz weit vor den Toren eine Straße errichten. Er wünschte sich, dass sie von prächtigen Sommersitzen Adliger gesäumt werden sollte. Dafür gab es immerhin ein Stück Land. Diese Bodengeschenke nannte man nach dem russischen Verb „dawat“, das „geben“ heißt, Datscha. Deshalb fährt man bis heute „auf“ die Datscha.

Seit 1710 hat sich aus den repräsentativen Sommerhäusern, kleinen Palais und Palästen, die bald zu einer Modesache von Adligen wurden, etwas ganz anderes entwickelt. Sommerhäuser blieben es – was man schon an der fast immer fehlenden Heizung merkt. So setzt erst Ende April die Invasion der Städter ein. Und ab da wiederholt sie sich, so oft es eben geht. Und das heißt in den Sommerferien fast täglich oder an den meisten Wochenenden. Weil Datscha-Siedlungen immer in Stadtnähe liegen, meistens höchstens zehn, fünfzehn Kilometer entfernt von der eigentlichen Wohnung, bereitet das wenig Schwierigkeiten. Bei Aufenthalten des Rezensenten in Samara gehörte es zu den interessantesten Erlebnissen, das Datscha-Leben mitzumachen. Natürlich jätet man Unkraut, beschneidet die Bäume, versucht, die Wasserleitungen wieder in Gang zu bringen, verbrennt altes Holz, pflanzt langsam wieder neu an. Es dauert aber nicht lange, bis die ersten Gäste kommen. Oft sind es Freunde und Bekannte, gar nicht so selten aber einfach Nachbarn oder Leute, die vorbeikommen und etwas wissen wollen. Spontan ergibt sich so schon einmal ein Schaschlik, wie man das Grillen dort nennt, zu dem alle irgendetwas beisteuern. Improvisierte Sitzgelegenheiten, Speisen, Getränke und – wenn es länger dauert – Beleuchtung macht die Sache nur noch netter.

Eine alte Tradition also: Ungezwungen freies, geselliges und vor allem für die Kinder abenteuerliches Leben. Dutzende Filme, Dramen und Bücher spielen auf der Datscha. Kaum ein Russe, der nicht stundenlang davon Geschichten erzählen könnte. Im 19. Jahrhundert war das schon so üblich, dass diese Gartengrundstücke mit Sommerhäusern als Schauplatz und Thema der Literatur wichtig wurden, in Fjodor Dostojewskis „Idiot“ oder seinen „Weißen Nächten“, in Iwan Gontscharows „Oblomow“ und Leo Tolstois „Anna Karenina“, Tschechows „Kirschgarten“. Es ging dort noch freier und vor allem weniger bespitzelt zu als in den Salons, so dass sich die Datscha als Treffpunkt für politische Dispute, heimliche Zirkel und natürlich für Techtelmechtel anbot. Im 20. Jahrhundert kauften immer mehr Bürger eine Datscha und so schossen die oft zweistöckigen Gebäude mit Bad und extra Wirtschaftsgebäude für die Wäscherei wie Pilze aus dem Boden. Pilze gab es in der Nähe sowieso, denn bevorzugt wurden diese Siedlungen im Wald gebaut.

Nach der Revolution 1917 ließ sich die Datscha-Tradition nur aufrechterhalten, weil deren Führer mit ihr aufgewachsen waren. Die Datscha blieb im Sozialismus – nach einer Welle von Enteignungen – trotzdem zu einem kleinen Teil Privateigentum. Viele Eigentümer mussten ihren Besitz aber aufgeben. Dafür übertrug man ihn auf Schulen, Betriebe oder Massenorganisationen, vor allem um Stadtkindern Sommerlager zu ermöglichen. Die meisten Datschen hatte übrigens Stalin, der sie regelrecht sammelte. 1955 erkannte man dann das Potential der Siedlungen. Man forderte offiziell, Gartenkollektive zu bilden, um die Gemüse- und Obstversorgung der Städter zu verbessern. Zahlreiche neue Datscha-Grundstücke wurden verteilt, alle 600 qm groß, allerdings mit der Auflage, landwirtschaftlich tätig zu werden. Für alle, die keine Gartenbauerfahrung hatten, gab es so manche Missernte, aber die meisten lernten schnell und verdienten sich ein schönes Zubrot.

Seit der Perestroika trifft man zwischen den einfachen Gebäuden auf Protzbauten. Außerdem machen sich hohe Wellplastikzäune als Sichtschutz und Diebstahlsicherungen breit. Die Probleme folgen auf dem Fuße. Je unpersönlicher man in der Datscha-Siedlung lebt, um so weniger achtet man auf den Zustand der Straßen, den Müll, vom Abwasser und anderen menschlichen Hinterlassenschaften zu schweigen. Schlecht bezahlte Bauarbeiter und organisierte Diebesbanden ziehen schon mal quer durch die Grundstücke und nehmen alles mit, was sich verwerten lässt.

Einen echten Datscha-Verehrer, und sehr viele Russen sind es immer noch, kann das zwar erschüttern, aber nicht vertreiben. Er fängt wieder von vorne an, repariert, geht auf einen Schwatz zum Nachbarn, um sich mit ihm zu beraten, wobei sich mit gewisser Wahrscheinlichkeit ein Schaschlik und damit ein schöner Abend ergibt, wie es ihn nur auf der Datscha geben kann.

Titelbild

Marina Rumjanzewa: Auf der Datscha. Eine kleine Kulturgeschichte und ein Lesebuch.
Dörlemann Verlag, Zürich 2009.
287 Seiten, 21,90 EUR.
ISBN-13: 9783908777359

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