Leben als Kunst

In dem Lesebuch „Leben“ von Brigitte Landes werden existenzielle Fragen gestellt

Von Jana ScholzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jana Scholz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es überrascht uns, es langweilt uns, es ist unbequem, lustvoll und aufregend zugleich. Auf jeden Fall ist es zu kurz, das Leben. Es scheint in unseren Händen zu liegen – und doch haben wir es nicht vollkommen in der Hand. So bedarf es offenbar einer Lebenskunst, die uns in allen Situationen, den innerlichen Katastrophen und den äußerlichen Komplikationen, die Richtung weist. Wie sollte der Mensch leben? Warum sollte er leben? Was ist das Leben? Und: Kann man die Antworten auf diese Fragen finden?

Die „Bibliothek der Lebenskunst“ des Insel Verlags führt in dem Sammelband „Leben. Ein Lesebuch“ von 2008 bedeutende Philosophen und Dichter an, um die Gestaltung menschlicher Existenz in kurzen Lesestücken zu diskutieren. Die Herausgeberin Brigitte Landes hat die Texte ganz verschiedenen Themenfeldern wie „Theater“, „Müßiggang“ und „Reisen“ zugewiesen und zitiert dabei Stimmen von Epikur über Erasmus von Rotterdam, Albert Camus und Anton Cechov bis Dietmar Dath. Zwar erscheinen einige Themen, so etwa „Das kurze Theater mit dem Staub“, „Schwierige Tiere“ und „Verlorene Liebe, Wissenschaft“, zunächst eher unzugänglich und eigen. Insgesamt ist die Auswahl der Autoren jedoch intelligent angelegt. Anregend wirken die vielen Brücken, die sich zwischen den einzelnen Dichtern und Philosophen schlagen lassen und denkwürdige Entwicklungen in der Geistesgeschichte kenntlich machen.

So beklagt Jakob Michael Reinhold Lenz in seinem von der Herausgeberin mit „Aber heißt das gelebt?“ betitelten Text aus den 1770er-Jahren das Elend, keine selbstständige Existenz zu führen, sondern stattdessen nur ein Spielball anderer zu sein. Seine Rede endet mit der Erkenntnis, dass die Freiheit des Menschen in der Manier liege, die ihm vorbestimmte Rolle zu spielen: „Welche sie [die Rolle] aber auch sei, so müssen wir uns doch alle bereit halten in derselben zu handeln, und jenachdem wir besser oder schlimmer, schwächer oder stärker handeln, jenachdem haben wir auch besser oder schlimmer gespielt, jenachdem verbessern wir auch unser äußerliches und innerliches Glück.“

Der darauf folgende Text von Hermann Hesse, ein Auszug aus seinem 1927 erschienenen Roman „Der Steppenwolf“, thematisiert das menschliche Autonomiebedürfnis in anderer Weise. Es ist nun der Mensch, der über die Vielzahl seiner Seelen wie in einem Schachspiel selbst verfügt; die Persönlichkeit steht jetzt, anders als 150 Jahre zuvor, im Zentrum der menschlichen Weltsicht.

Die Lesestücke, die Landes in dem Kapitel „Was ist das Leben?“ aufwirft, regen wiederholt zum Nachdenken über die Bedeutung von Zerstreuung und Ziellosigkeit in der menschlichen Existenz an. Wie ist die Lebenszeit zu verbringen? Wie wird ein Leben sinnhaft? Das sind durchaus beachtenswerte Fragen, wenn man bedenkt, dass der Mensch, soviel er auch in Wissenschaft und Kunst hervorgebracht hat, seine Tage häufig ganz anders zubringt. Anstatt einen Roman zu schreiben, suchen wir den Kugelschreiber, statt des Nachmittagspaziergangs verbringen wir die freie Zeit im Supermarkt, statt ins Theater zu gehen, bleiben wir beim Studieren der Fernsehzeitschrift. So bestimmen Banalitäten einen großen Teil unseres Alltags.

In Samuel Becketts Drama „Warten auf Godot“ wird die Suche nach einer gelben Rübe zur bloßen Ablenkung, zur sinnleeren Beschäftigung, die nur das Vergehen der Zeit zum Zweck hat. „Wir finden doch immer was, um uns einzureden, daß wir existieren, nicht wahr, Didi?“ Der griechische Philosoph Epikur steht solchen sinnleeren Beschäftigungen sehr viel skeptischer gegenüber: „Überm Zaudern schwindet das Leben dahin und so manche sterben, ohne sich im Leben jemals recht Zeit genommen zu haben.“ Kein Wunder ist es also, dass der romantische Dichter Bonaventura in den „Nachtwachen“ von einem falschen Haarzopf erzählt. Dieser war einem vermeintlichen Selbstmörder während der Tat vom Kopf gerutscht, was in dem Erzähler einen längeren Monolog über die Störung tragischer Situationen durch komische Ereignisse auslöst.

„Sinn“ und „Lebensinhalt“ sind Begriffe, die von einer bestimmten Kultur oder einer gesellschaftlichen Gruppierung verschieden gefüllt werden. Spezifische Handlungen, Brauchtümer, Werte und moralische Grundsätze können dem Dasein gewissermaßen Sinn verleihen. Um den eigenen Lebenswandel zu legitimieren, ist daher oft eine Übereinstimmung mit den sozialen Ansprüchen nötig. Diese geht jedoch dem Müßiggänger, den Landes im vierten Kapitel in all seinen Facetten darsstellt, ab. Robert Walsers Protagonist Simon beginnt dann auch, dieses „träge, schlenderische Leben, das er führte, als etwas Unerträgliches zu empfinden“. Schließlich habe es doch etwas für sich, zu leben wie die meisten; das Schaffen unter Menschen sei doch das allein und einzig Bildende. Georg Büchners Leonce fragt sich: „Warum kann ich mir nicht wichtig werden und der armen Puppe einen Frack anziehen und einen Regenschirm in die Hand geben, daß sie rechtlich und sehr nützlich und sehr moralisch würde?“

Um das Problem der Lebensgestaltung zu lösen, zieht Landes auch die Naturwissenschaften heran. Die Biologie ist vom Wort her die „Lehre vom Leben“. Umso erstaunlicher erscheint es, dass eine grundsätzliche Bestimmung des Lebens selbst aus Sicht der exakten Wissenschaften nicht einfach ist. Der österreichisch-amerikanische Biochemiker Erwin Chargaff, dessen Erforschung der Basenzusammensetzung von Nukleinsäuren für die Entschlüsselung der DNA-Struktur fundamental war, erklärt: „[W]ir besitzen keine wissenschaftliche Definition des Lebens. […] [U]nsere Unfähigkeit, das Leben in seiner Wirklichkeit zu erfassen, mag der Tatsache zuzuschreiben sein, daß wir selbst am Leben sind.“ Dass die Naturwissenschaft die Wahrheit ohnehin nicht für sich gepachtet hat, zeigt ein Blick zurück zur Kunst. „Blind sind der Menschen Gedanken, wenn einer ohne die Musen mit Verstandeskünsten allein den Weg sucht“, erinnert Botho Strauß mit einem Zitat von Pindar. Johann Wolfgang von Goethe hat sein Leben lang sowohl den Musen als auch den Wissenschaften sein Engagement gewidmet. Ur-Gesetze und Farbenlehre fanden ebenso Beachtung wie die Dramen Egmont oder Hermann und Dorothea. Der Dichterfürst wusste jedoch, dass „Wahrheit“ und „Wirklichkeit“ der Poesie nicht zuträglich sind.

Es mag sein, dass die scheinbaren Gegensätze in der Themenauswahl dieses Bandes zunächst irritieren. Wer sich aber für die Überwindung von Grenzen zwischen Wissen, Weltanschauung, Verstand, Gefühl, Poesie und Wissenschaft öffnet, der wird die Reichhaltigkeit der Kompilation erkennen und sich an ihr freuen. Denn so ist auch das Leben: voll scheinbarer Widersprüche.

Titelbild

Brigitte Landes (Hg.): Leben. Ein Lesebuch.
Insel Verlag, Frankfurt a. M. 2008.
160 Seiten, 15,00 EUR.
ISBN-13: 9783458174196

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