Auch Clio dichtet

Micha Meier und Steffen Patzold schreiben über den Untergang Roms im August 410

Von Klaus-Jürgen BremmRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus-Jürgen Bremm

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Am 24. August des Jahres 410 eroberte ein Heer unter der Führung eines Generals namens Alarich die Stadt Rom. Drei Tage plünderten Alarichs Soldaten die alte Hauptstadt des Römischen Imperiums. Am 27. August zogen sie wieder ab.“ In diesen wenigen Sätzen ist, so der Althistoriker Mischa Meier und der Mediavist Steffen Patzold, bereits alles zusammengefasst, was ernsthafte Historiker tatsächlich über jenes Ereignis wissen, alles andere sind Legenden, Anekdoten oder bewusste Verfälschungen.

Auch wenn der Untertitel ihres Buches Anklänge an das klassische Werk von Felix Dahn aufweist, so geht es ihnen doch nicht um eine Rekonstruktion oder Narrative der historischen Ereignisse, die im August des Jahres 410 zur Eroberung der Stadt geführt haben, sondern allein um die Rezeptionsgeschichte dieses die alte Welt zutiefst erschütternden Ereignisses.

Die Autoren beschreiben vielmehr einen publizistischen Kampf um Rom und spannen einen weiten Bogen von den antiken Schriftstellern bis hin zur modernen Wissenschaft. Dabei gelingt es ihnen, verschiedene Perspektiven und Interessenlagen zu rekonstruieren, die zwar alle auf den Fall der Urbs aeterna Bezug nehmen, dies aber zur Untermauerung ihrer eigenen Positionen gleichsam wie ein Argument nutzen. Christliche Autoren wie Augustinus und Oriosius bagatellisierten sogar die Einnahme der Stadt, die längst kein Regierungssitz mehr war, sondern nur noch Wohnstätte des heidnischen Senats. Aus theologischer oder heilsgeschichtlicher Sicht bedeutete die Plünderung Roms nicht mehr als eine göttliche Prüfung, zumal ja auch Alarichs Goten Christen waren, wenn auch arianische Häretiker. Lobend wird die Schonung der Kirchen erwähnt, doch besonderen Eindruck auf die Christen in der Stadt muss das nicht hinterlassen haben, wäre doch nicht sonst, wer es sich leisten konnte, in Scharen nach Nordafrika geflohen. Auch heidnische Autoren wie der gallo-römische Hocharistokrat und spätere Stadtpräfekt Rutilius Namatianus versuchten, die Niederlage als Episode herunterzuspielen und setzten ihre Hoffnungen auf die anfänglichen Erfolges des römischen Generals Constantin, der später sogar kurzzeitig dem angeblich unfähigen Honorius als Kaiser folgte.

Der spanische Autor Isidor von Sevilla sah den Fall von Rom rund 200 Jahre später sogar ganz im Zeichen einer erhofften neuen Symbiose aus Römertum und Goten, was aber mehr über die politische Lage in Spanien zu Beginn des 7. Jahrhunderts aussagt als über das Ereignis selbst. Dass auf diese Weise insgesamt nur wenige für die historische Forschung verwertbare Details der Vorgänge überliefert sind, mag für moderne Interpreten dieser durchweg moralisierenden oder propagandistischen Pseudogeschichtsschreibung enttäuschend sein.

Meier und Patzold verstehen jedoch aus den überlieferten Daten ein profiliertes Bild dieser spätantiken Epoche mit ihren geistigen und politischen Frontstellungen zu rekonstruieren. Dass Geschichtsschreibung oft mehr über die eigene Zeit aussagt als über die beschriebene Epoche, gilt indes nicht nur für antike oder mittelalterliche Autoren. Auch die neuzeitliche und später die moderne Forschung können von diesem Diktum nicht freigestellt werden. Während Edward Gibbon in seiner Bewertung deutlich kirchenkritische Tendenzen der zeitgenössischen Aufklärung einfließen ließ, feierten deutsche Autoren des 19. Jahrhunderts den Sieg Alarichs als germanischen Triumph über ein angeblich dekadentes Romanentum und spiegelten damit nur die aktuelle nationalistische Frontstellung gegen Frankreich.

Zugleich wird aber hierbei schon eine Verlagerung des Forschungsinteresses deutlich. Mehr und mehr geraten dabei die Germanen und ihre ethnische Zusammensetzung in den Blick. Ergibt es aber überhaupt Sinn, von den West- oder Ostgoten zu sprechen, wenn man doch damit einer stark vereinfachenden Sicht des spätantiken Autoren Jordanes aufsitzt? Sinnvoller erscheint es, folgt man dem Wiener Althistoriker und Doyen der Gotenforschung, Wolfram Herwig, Alarich als den Anführer einer entwurzelten Horde von bewaffneten Abenteurern zu betrachten, dem es allein darum ging, sich mit Hilfe seiner mehr oder weniger barbarischen Gefolgsleute einen angemessenen Platz in der römischen Ämterhierarchie zu verschaffen. Erst der Fall der Stadt, von Alarich überhaupt nicht beabsichtigt, da es ihm allein um die Drohkulisse ging, schien ihn und seine Nachfolger in die Rolle von Gotenkönigen gedrängt zu haben.

Vergleiche mit der aktuellen politischen Gemengelage bieten sich durchaus an. Hat nicht auch der Kampf gegen den Terror nach „Nine eleven“ überhaupt erst einen neuen Gegner erzeugt, so wie es der amerikanische Autor Michael Kulikowski für Alarichs angebliche Goten behauptet? Auch hier spiegelt die moderne Interpretation der nunmehr 1.600 Jahre zurückliegenden Ereignisse eher eine aktuelle politische Lage.

Die weltweite Schockwelle, die im Jahre 2001 der Angriff auf die New Yorker Twin-Towers auslöste, dürfte mit jener durchaus vergleichbar sein, die in der Spätantike die Einnahme Roms verursachte. Rom wurde nicht völlig zerstört, das Leben ging weiter, viele Flüchtlinge kehrten zurück, doch wie im Falle New Yorks war das beklemmende Gefühl vorherrschend, in ein neues Zeitalter eingetreten zu sein, in dem nicht mehr Rom oder inzwischen der Westen die Welt dominierte, sondern andere, barbarische Kräfte.

Und dieser Faden ließe sich weiterspinnen. War es nicht eine rasant schwindende Staatsgewalt und anschwellende germanische Migrantenströme, welche die spätantike Zivilisation bedrohten? Wer erinnerte sich da nicht unweigerlich an die scheinbar für die autochthonen Bewohner Europas zunehmend bedrohlicher werdende Lage durch Überfremdung und Identitätsverlust? Waren Zerfall und Untergang des Weströmischen Reiches das Schicksal eines so genannten „failed state“ und könnte sich dessen Schicksal gar im Falle der europäisch-amerikanischen Zivilisation wiederholen? Wieso eigentlich wurde das gut befestigte caput mundi, dessen aurelianische Mauern noch heute zu besichtigen sind, nicht hartnäckiger verteidigt? War tatsächlich Verrat im Spiel, wie einigen Quellen behaupten?

Je weniger harte Fakten über den Fall Roms im Jahre 410 verfügbar sind, um so mehr haben Historiker aller Epochen die klaffenden Lücken mit eigen Interpretationen gefüllt und um so mehr wurde daraus ein ferner Spiegel, in dem letztlich die Ereignisse und Probleme der eigenen Epoche auftauchen. Der Vorwurf einer narrativen Clio trifft beileibe nicht nur die Alten. Diesen Sachverhalt haben die beiden Autoren in überzeugender und sprachlich eingängiger Form klar gemacht. Ihr knapp gehaltener Band ist daher eine wichtige und zum Nachdenken anregende Publikationen, der man eine breite Leserschaft wünscht.

Titelbild

Mischa Meier / Steffen Patzold: August 410 - Ein Kampf um Rom.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2010.
258 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783608946468

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