Helden für eine Mark
Constantin Gillies’ Roman „Der Bug“ handelt vom (Nicht-)Erwachsenwerden einer Jugendkultur
Von Stefan Höltgen
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseNick und Kee haben es nicht geschafft, ihren guten Vorsatz aus Constantin Gillies’ erstem Roman „Extraleben“ in die Tat umzusetzen und ab sofort nicht mehr in der Vergangenheit, sondern in der Gegenwart zu leben. „Extraleben“ hatte beschrieben, wie die beiden ehemaligen 80er-Jahre-Computerkids heute im Studium feststecken, ungeliebte Aushilfsjobs für wenig Geld ausüben und dann durch Zufall – und weil sie als Mitglieder der „Generation C 64“ die einzigen mit dem notwendigen Rüstzeug dafür sind – doch noch eine Aufgabe finden: Auf der Suche nach der Lösung zu einem digitalen Rätsel geraten sie an den geheimnisvollen Konzern Datacorp, der genau solche Mitarbeiter wie die beiden sucht: Leute um die 30, die Interesse für Retro-Technologie besitzen und dieses Interesse ebenso wie die Artefakte dieser Kultur am Leben erhalten wollen. Datacorp ist ein Unternehmen, das sich auf aussterbende Computer und die Sicherung von deren Daten spezialisiert hat. Computer, wie sie noch heute in vielen Unternehmen eingesetzt werden, weil sie funktionieren und ihre Ersetzung durch neuere Systeme deshalb unnötig und ohnehin viel zu teuer wäre. Computer, die jedoch oft so selten sind, dass bei einem Fehler oder Absturz kaum noch Ersatzteile für sie zu finden wären oder jemand rettend eingreifen könnte. Außer eben Menschen wie Nick und Kee.
Im Nachfolge-Roman „Der Bug“ haben sich die beiden bei Datacorp beruflich arriviert. Nick ist Spezialist für seltene Computer-Hardware, Kee „nur“ für einfache Datenrettungseinsätze an damals populären Homecomputer-Systemen zuständig. Als beide beim LegaSys-Kongress den Auftritt und dann den plötzlichen Tod der Computer-Koryphäe Charles Irving miterleben, beginnt eine neuerliche Odyssee für sie. Irving scheint nämlich einerseits keines natürlichen Todes gestorben zu sein, andererseits hatte er auf besagtem Kongress wohl ein immens wichtiges Geheimnis mit der Öffentlichkeit teilen wollen, woran er gehindert werden sollte. Einzige Hinterlassenschaft Irvings ist ein äußerst seltener tragbarer „Grid Compass 1101“-Computer aus den 1980er-Jahren, in dessen Speicher die beiden eine seltsame Datei finden. Dass man Nick und Kee damit beauftragt hat, den Inhalt der Datei und die damit zusammenhängende Geschichte Irvings zu „bergen“, zeigt sich als Glücksgriff: Nick ist mit den Technologien zur Entschlüsselung ebenso vertraut wie mit der Biografie Irvings. Letzteres Wissen hilft immer dann weiter, wenn eine verschlossene Tür auftaucht: Sei es in Irvings Absteige in Kuala Lumpur oder vor einem gut abgeschotteten, ausrangierten Atomraketen-Silo in den USA. Nur Helden sind Nick und Kee eigentlich nicht – oder wenn, dann nur in längst vergangenen, virtuellen Sphären, wo eine Heldentat noch für eine Mark von einem Spielautomaten zu erkaufen war. Doch echte Helden müssten sie für den Auftrag eigentlich sein, denn sie sind nicht die einzigen, leider aber die harmlosesten, die hinter Irvings Geheimnis her sind.
Abermals präsentiert Constantin Gillies eine Erzählung von der und für die Computerkid-Generation. Erzählt wird wieder aus der Perspektive Kees, der sich zeitweise selbst als „Captain Obvious“ bezeichnet, weil er in Gegenwart Nicks unter einem ständigen Minderwertigkeitskomplex leidet: Während Nick, der „Beifahrer“ nämlich über technisches Wissen verfügt, das die Weiterreise an verschiedenen Stellen erst ermöglicht, kann Kee oft nur das ausformulieren, was ohnehin klar ist – ihm zumindest. So wird sein Denken über Nick nicht selten negativ, von Neid, aber auch Abgestoßensein von dessen mittlerweile bürgerlicher Existenz bestimmt. Dass dieser unausgesprochene, immer nur von Kee gedachte Konflikt zwischen beiden den gesamten Roman durchzieht, zeichnet eine „innere Spur“ nach, die zur äußeren Fährte der Abenteuerreise orthogonal verläuft. Denn trotz aller Entwicklungsaspekte – Nick wird Vater, Nick hat ein Haus, Nick hat eine feste Freundin – ist „Der Bug“ keinesfalls eine Entwicklungsgeschichte, denn Kee kann das, was Nick hat und macht und ist immer nur von der Warte des biografisch festgefahrenen, ewigen Studenten und kleinen Angestellten Datacorps aus betrachten.
Und aus genau diesem Grund empfindet man als Leser Kees Aversion gegen Nick auch schon bald als aufgesetzt und gespielt – als einen psychologischen Trick der Selbstvergewisserung. Nicht erst wenn Kee neben dem schlafenden Nick komplette Dialoge beider antizipiert weiß man, dass er seinen Jugendfreund für immer „intus“ hat – der Anfang des Romans, die Verzweiflung Kees angesichts des reglos am Boden liegenden Nick, lässt diesbezüglich keine Fragen offen.
Die Reise zum Geheimnis Irvings lotet die Freundschaft beider daher nur noch tiefer aus und wirft die Frage des Vorgängerromans ein weiteres Mal auf: In welche Richtung zeigt der Zeitpfeil für die Protagonisten und ihre ganze Generation? Eine Antwort auf diese Frage ergibt sich aus dem, was Nick und Kee beruflich treiben: Sie sind eigentlich Archäologen einer noch extrem jungen aber dennoch schon verschwindenden Kultur. Wie wichtig ihre Arbeit ist, können sie nur erraten – etwa am Ende des Romans, wenn die Frage gestellt wird, was es mit dem titelgebenden „Bug“ eigentlich auf sich hat. Sie sind die lebendigen Bindeglieder zwischen einer durch extreme Entwicklungsbeschleunigung immer rasanter absterbenden Technik: Die historischen Computer, mit denen sie sich auskennen müssen, sind für die meisten ihrer Mitmenschen mindestens genauso rätselhaft wie ägyptische Hieroglyphen.
„Sicherheit durch Seltenheit“ ist die Devise Irvings gewesen, mit der er sein Geheimnis geschützt hat. Hierzu verwendete er eine extrem esoterische und mittlerweile unikale Rechner-Technik, die eben nur noch von wenigen Menschen, wie Nick und Kee, bedient werden kann. Dass sie das können – und deshalb ist „Der Bug“ wesentlich mehr als nur eine Abenteuergeschichte – versorgt die Leser ihrer Generation mit einem Sinn: Dem Sinn, dass ihr mittlerweile archäologisch-technisches Wissen keineswegs unbrauchbar ist, sondern im Angesicht der rasanten technischen Entwicklungen immer wichtiger wird. Heute schon legt sich etwa die deutsche Bundeswehr ein Archiv mit historischen Computern an, um einerseits alte Datenbestände reproduzierbar zu halten, andererseits, um sich vor genau jener feindlichen Kryptologie nach dem Prinzip „Sicherheit durch Seltenheit“ schützen zu können. Denn wer weiß, welche waffentauglichen Informationen auf Computern wie einem „IBM Series/1“ tatsächlich noch gespeichert sind?
Aber auch wenn Gillies’ Roman diesen Technik-Diskurs mit den enzyklopädischen Details eines Computer-Bedienungshandbuches bedient, ist er natürlich zuvorderst ein literarisch-fiktionales Kunstwerk. Gillies’ Kunst zeigt sich in vielen Details: die psychologische Tiefe seiner beiden Figuren, die so komplex angelegt sind, das erzählerische Seitenstränge gar nicht nötig werden, um Abwechslung zu schaffen; das gekonnte Timing der Spannungserzeugung – allein das an den Anfang der Geschichte vorgezogene Spätkapitel, das den Leser sogleich in eine „teleologische Unruhe“ versetzt, die die Reiseerzählung zu einem steten Vorlaufen zur Katastrophe werden lässt; das technikhistorische und kulturelle Detail-Wissen der 70er- und 80er-Jahre des letzten Jahrhunderts, das Gillies zu keiner Zeit zusammenhanglos präsentiert, sondern immer in passenden Anekdoten auf seine Protagonisten aufteilt. All dies macht „Der Bug“ zu einem exquisiten Beitrag der deutschsprachigen Genre-Literatur.
Das im auf „digitale Retro-Kultur“ spezialisierten CSW-Verlag erschienene Buch richtet sich zwar wie der Vorgänger ebenfalls zuvorderst an die Teilnehmer der darin angesprochenen Generation, es verschafft jedem anderen Leser aber ebenso einen Einblick in deren Welt. Es zeigt – etwa durch hin und wieder doppelseitig eingefügte Schaltpläne, Röntgen- und Mikroskop-Aufnahmen retro-technischer Apparate und Artefakte – worauf das Leben und Denken dieser Retro-Kultur basiert und wird damit auch zu einem mentalitätsgeschichtlichen Nachvollzug im Modus der Technik: „Wir sind echt Gefangene der Achtziger“ – „Wir haben noch nie etwas erlebt.“ – „We’re on a road to nowhere. Come on inside..“.
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