„Kein Geld, kein Schnaps, kein Fraß, kein Weib“

In „Die Epoche der Vagabunden“ präsentieren die Herausgeber Walter Fähnders und Henning Zimpel Texte und Bilder von „Erzvaganten“ und „Tippelschicksen“ aus den Jahren 1900-1945

Von Jens ZwernemannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jens Zwernemann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es mag zunächst fast schon zynisch klingen, wenn Walter Fähnders und Henning Zimpel in ihrem Vorwort von der „‚heroische[n]‘ Phase der Vagabondage“ schreiben, werden doch landläufig mit Obdachlosigkeit und der daraus resultierenden sozialen Ausgrenzung kaum ‚heroische‘ Aspekte assoziiert. Dabei war es, wie die Herausgeber von „Die Epoche der Vagabunden“ darlegen, aber gerade die gesellschaftliche Exklusion der ‚Vagabunden‘, die auch ein künstlerisch wie politisch beachtliches Potential in sich barg: Aller staatlichen Repressalien zum Trotz entwickelte sich ab 1900 innerhalb der Reihen der Wohnungs- und Heimatlosen eine Gegenkultur zur bürgerlichen Lebensweise und nicht wenige der „Kunden“, wie sich die Obdachlosen selbst nannten, hatten sich bewusst für ein Leben auf der Straße entschieden. Prominente Vertreter dieser künstlerischen und gesellschaftlichen Avantgarde waren neben Erich Mühsam, Peter Hille und Jakob Haringer auch bildende Künstler wie Karl Heinz Brodensiek, Artur Streiter und Hans Tombrock, der vor allem durch seine spätere Zusammenarbeit mit Bertolt Brecht bekannt wurde. Darüber hinaus traten erstmals auch Vagabundinnen – sogenannte „Tippelschicksen“ – mit ihren Werken an die Öffentlichkeit, wobei gerade deren künstlerisch-literarische Produktion, mit Ausnahme der Texte Anni Geiger-Gogs und Jo Mihalys, bislang noch kaum erforscht ist.

Das damalige Selbstbewusstsein der ‚Vagabunden’ kommt nicht nur in der Gründung der internationalen „Bruderschaft der Vagabunden“ im Jahr 1927 zum Ausdruck, sondern auch in dem zwei Jahre später in Stuttgart veranstalteten ‚Vagabunden-Kongress‘, auf dem, neben dem Initiator, dem „Vagabundenkönig“ Gregor Gog, auch Willi Hammelrath und Hans Tombrock programmatische Reden hielten. Gefeiert wurde dabei vor allem das Vermögen des ‚Landstreichers‘ in Form einer „planetären Wanderung“ (Rudolf Geist) Grenzen zu überschreiten, aus vorgegebenen Ordnungen auszubrechen und – im Gegensatz zu den Angehörigen der statischen bürgerlichen Gesellschaft – Vertreter eines permanent fluiden „Werdens“ zu sein: „die ganze Erde als unsere Heimat, als Vaterland aller, die eines guten Willens sind, aller, die sich in wahrer, brüderlicher Menschenliebe verbinden möchten, in Liebe zu allem, was da ist, in Liebe zum Leben selbst“ (Tombrock).

Dass die ‚Vagabondage‘ – bei allem sozialutopischen Impetus – jedoch keineswegs primär die selbstgewählte Lebensform überzeugter Revolutionäre und Anarchisten war, wird durch die von den Herausgebern ausgewählten Texte und Bilder ebenfalls verdeutlicht: Gegliedert in sieben Abteilungen („Auftakt“, „Vagabund, Vagabundin“, „Unterwegs“, „Lebensläufe, Typen, Profile“, „Reflexion und Widerstand“, „Bruderschaft der Vagabunden“ und „Rückblick“) werden in „Die Epoche der Vagabunden“ neben sozial-politisch motivierten Reden und Manifesten auch Werke von Obdachlosen präsentiert, die das – zumeist jähe – Scheitern der großen sozialen Utopie vor Augen führen: Vom schieren Elend des Lebens auf der Straße ist da die Rede, von Kleinkriminalität und gesellschaftlicher Diskriminierung, von Krankheit, weiblicher wie männlicher Prostitution und Polizeiwillkür.

Eindrucksvolle Zeugnisse dieser ‚Kehrseite‘ der (mehr oder minder freiwilligen) Ausgrenzung und häufig eben nur vermeintlichen Freiheit sind etwa Tombrocks Zeichnung „Zug der Heimatlosen“, in der er das Heer der Obdachlosen als scheinbar endlosen Strom von abgemagerten und zerlumpten Menschen darstellt, oder auch Mühsams Gedicht „Im Bruch“: „Kein Geld, kein Schnaps, kein Fraß, kein Weib. / In mürben Knochen kracht der Leib ./ Die Nacht ist kalt. Es kratzt das Stroh. / Die Laus marschiert, es hupft der Floh. / Die Welt ist groß, der Himmel hoch. / Wer pumpt mir noch? Wer pumpt mir noch? / Wer pumpt mir einen Taler noch?“

Ein großer Teil der in „Die Epoche der Vagabunden“ versammelten Texte und Bilder erschien erstmals in den unter Gogs Ägide publizierten Obdachlosenzeitschriften „Der Kunde“ und „Der Vagabund“; dass dabei der kulturhistorische Wert der Beiträge ihren künstlerischen mittlerweile bei weitem übertreffen dürfte, schmälert das Verdienst der Herausgeber Walter Fähnders und Henning Zimpel in keinster Weise. Im Gegenteil: In „Die Epoche der Vagabunden“ machen sie authentische Zeugnisse einer weitgehend in Vergessenheit geratenen Subkultur einem größeren Lesepublikum zugänglich. Die Lektüre des Bandes sei nicht nur jenen anempfohlen, die sich für das Thema ‚Vagabondage‘ interessieren, sondern auch jenen, deren Interesse den diversen Avantgarden des frühen 20. Jahrhunderts gilt.

Titelbild

Walter Fähnders / Henning Zimpel (Hg.): Die Epoche der Vagabunden. Texte und Bilder 1900 - 1945.
Klartext Verlagsgesellschaft, Essen 2009.
317 Seiten, 29,95 EUR.
ISBN-13: 9783898616553

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch