Missverstandenes Krisenkonzept

Hartmut Rosa und seine Mitarbeiter skizzieren „Theorien der Gemeinschaft“ und rehabilitieren einen Kampfbegriff der Moderne

Von Josef BordatRSS-Newsfeed neuer Artikel von Josef Bordat

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es gibt in der Soziologie Konzepte, die einerseits zum Basisinventar gehören, so sehr, dass die wichtigsten Ansätze der Gesellschaftslehre ohne diese Deutungsschlüssel nicht verstanden werden könnten, die andererseits jedoch als „Kampfbegriffe“ eine wechselvolle Rezeptionsgeschichte erlebt haben, die sie für den wissenschaftlichen Diskurs fragwürdig macht. Denn aus dieser Rolle und den vielfältigen weltanschaulich-emotionalen Konnotationen, die damit verbunden sind, ergibt sich für die historische und vor allem für die systematische Analyse ein Problem: Die Politisierung der grundlegenden Interpretamente macht ihre theoretische Aufbereitung schwierig.

Zu diesen Problembegriffen gehört sicherlich „Gemeinschaft“. Kaum ein anderer Begriff der Soziologie weckt so starke Assoziationen. „Gemeinschaft“ vereint in sich die Spannung zwischen Individuum und Kollektiv, die die Politische Philosophie seit Platon und später die Soziologie auszutarieren versuchen. Wer „Gemeinschaft“ sagt, spielt mit Grundbedürfnissen wie Nähe und Distanz. Er weckt nicht selten – mitten im akademischen Diskurs – ambivalente Gefühle wie Sehnsucht und Ekel und macht Diskussionen damit unmöglich, soweit sie seriös und sachlich geführt werden sollen.

Ein knappe Darstellung zu Theorien der Gemeinschaft, die sich nicht in der Rekonstruktion und Interpretation eines der epochalen soziologischen Auseinandersetzungen (etwa der von Ferdinand Tönnies) erschöpft, sondern einen Überblick verschafft, der möglichst voraussetzungsarm in die Theorien des Gemeinschaftskonzepts und in die systematischen Bedingungen der Theoriebildung einführt, ist daher ein wertvoller Beitrag zur Versachlichung der Debatte um diesen schillernden Begriff. Dem Autorenkollektiv um den Jenaer Soziologen Hartmut Rosa, zu dem dessen Mitarbeiter Lars Gertenbach, Henning Laux und David Strecker zählen, ist mit einer ihrer historischen und systematischen Begriffsanalyse „Theorien der Gemeinschaft“ ein solcher Beitrag gelungen, der mit seiner weit ausgreifenden (aber nicht ausufernden), informativ-nüchternen (aber dennoch gut lesbaren) und knappen (aber trotzdem umfassenden und verständlichen) Darstellung in der Tat dem Anspruch der Autoren gerecht wird, einen „Einblick in die ganze Bandbreite der sozialwissenschaftlichen Gemeinschaftsdebatte“ zu eröffnen und dabei „begriffliche, zeitdiagnostische, analytische, funktionalistische und politisch-ethische Erwägungen“ zu verbinden.

Die Autoren, die bereits durch einige gemeinsame Projekte ausgewiesen sind, zeigen, dass Gemeinschaft in unterschiedlichen Kontexten und Formen als eine Lösung der sozialen Ordnungsfrage herausgearbeitet wird, zumal dann, wenn sich diese vor dem Hintergrund politischer und gesellschaftlicher Umbrüche und Irritationen anders stellt als zuvor. Im 19. Jahrhundert, unter dem Druck des Konzepts „Gesellschaft“ und einer erwachenden zugehörigen Wissenschaft, der Soziologie, erfährt der bislang unkritisch verwendete Begriff „Gemeinschaft“ eine Problematisierung, gewinnt in der Abgrenzung zugleich aber seinen eigentlichen Sinn, denn „die ,Entdeckung der Gesellschaft‘ ist die Bedingung für die genauere Profilierung des Gemeinschaftsbegriffs, insofern als er nun zum Sammelbegriff all dessen avancieren kann, was im Gesellschaftsbegriff nicht aufgeht.“

Die Autoren heben hervor, dass mit dieser Opposition nicht zwangsläufig eine Abkehr von der Moderne einhergehe (wie oft pauschal gegen die Rede von Gemeinschaft eingewendet wird), da das kritische Gegenkonzept zur modernen Gesellschaft „selbst zutiefst modern“ sei, da es „auf die Erfahrung der modernen Gesellschaft reagiert“.

Ganz entscheidend komme es darauf an, wie sich Gemeinschaften konstituieren, wie die Mechanismen der Zugehörigkeit funktionieren. In diesem Sinne verweisen die Autoren mit Helmuth Plessner auf die soziologisch zu bestimmenden Grenzen von Gemeinschaft und unterscheiden mit Bataille Abstammungs- und Wahlgemeinschaften, um letztere mit Axel Honneth zur Gemeinschaftsform der Gegenwart zu erheben. Für dessen „liberal community“ brauche es keine gemeinsame Herkunft und Tradition mehr, sondern lediglich geteilte Werte.

Der Analyse des Gemeinschaftsbegriffs hätte neben der Betrachtung systematischer Aspekte (etwa zur Ontologie von „Gemeinschaft“) sowie der Darstellung wesentlicher Erträge der philosophisch-soziologischen Fachdiskussion der vergangenen anderthalb Jahrhunderte sicherlich auch ein Schwenk zur Tradition des Politischen Utopismus’ gut getan, in dem regelmäßig die Überbetonung der Gemeinschaft zu einem rechts- und freiheitsbedrohenden Anti-Individualismus führt, der auch die Konzeption von Gemeinschaft in ihrer übersteigert geschlossen-exklusiven Form charakterisiert (man denke etwa an die „Volksgemeinschaft“ der Nazis).

Die Autoren verweisen in ihrem Fazit darauf, dass der Gemeinschaftsbegriff trotz der negativen Konnotationen durchaus positive Kraft entfalten kann, auch und gerade in der Krise, wenn er jenseits von sentimental-nostalgischer Aufladung und plumpen Abschottungsreflexen zu mehr Verbindung und Verbindlichkeit führt – durch frei gewählte, transparente und inklusive Gemeinschaften. Heute, wo die Grenzen des (Wirtschafts-)Liberalismus als besonderem Ausdruck der Entfaltung individueller Freiheit zur Disposition stehen, wird Gemeinschaft als Lebensweise wieder gesucht. Umso wichtiger, dass die Soziologie die normativen Konzeptionen, die der Gemeinschaftsbildung zugrunde liegen, ernsthaft und kritisch reflektiert.

Hartmut Rosa und seine Mitarbeiter leisten dazu mit ihrer ausgewogenen und stringenten Rehabilitierung des Begriffs „Gemeinschaft“ einen wichtigen Beitrag. Ihr Buch „Theorien der Gemeinschaft“ fügt sich gut in die solide Reihe „Zur Einführung“ des Junius-Verlags ein. Es bietet Studierenden der Geistes- und Sozialwissenschaften sowie allen anderen am Gemeinschaftsbegriff Interessierten einen hervorragenden Ein- und Überblick, der ein praktisch höchst relevantes Phänomen theoretisch überzeugend und nachvollziehbar fundiert.

Titelbild

Gerd Laux / Hartmut Rosa: Theorien der Gemeinschaft. Zur Einführung.
Junius Verlag, Hamburg 2009.
208 Seiten, 13,90 EUR.
ISBN-13: 9783885066675

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