Freiheit und Anpassung

In ihrem Roman „Tauben fliegen auf“ erzählt Melinda Nadj Abonji von zweierlei Freiheit

Von Beat MazenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Beat Mazenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Melinda Nadj Abonji kam 1968 in der serbischen Vojvodina zur Welt. Als kleines Mädchen emigrierte sie mit ihren Eltern in die Schweiz – zwei Heimaten und zwei Freiheiten. Aus diesen Erfahrungen schöpft ihr zweiter Roman „Tauben fliegen auf“. Die Erzählerin Ildikó Kocsis erzählt Geschichten aus der Emigration und Anekdoten von den seltenen Besuchen zuhause, in der Vojvodina.

Die Eltern Rosza und Miklós Kocsis wanderten in den 1970er-Jahren in die Schweiz aus, um da zu arbeiten und ein neues Glück zu suchen. Vaters anhaltender Hass auf Tito und seine Kumpane lässt aber noch andere Fluchtgründe vermuten. Hinter verdrängendem Schweigen verbirgt sich die demütigende Behandlung seines Vaters, von Papuci. Die Eltern halten sich darüber bedeckt, alte Wunden sollen nicht wieder aufgerissen werden. Mamika indessen, die Großmutter, berichtet Ildikó und ihrer Schwester Nomi eines Tages, was sich einst zugetragen hatte. Als der Krieg 1945 zu Ende ging und in Jugoslawien die Tito-Kommunisten an die Macht gelangten, widersetzte sich Papuci mit aller Kraft, dass sein Land verstaatlicht würde. Wochenlang hielt er sich versteckt, bis er verraten und verhaftet wurde. Bevor man ihn ins Arbeitslager schaffte, das er später erst als gebrochener Mann wieder verließ, verhörte und schlug man ihn im Keller desselben Schulhauses, in dem sein Sohn Miklós zur Schule ging und dabei seine Schreie hören konnte. Doch er musste sich still verhalten, so bewahrte er im Herzen den Hass auf die Schergen auf. Miklós begann sich auffällig zu verhalten und wurde bald als Konterrevolutionär eingestuft.

Ildikó und Nomi wuchsen die ersten Jahre in der Obhut Mamikas zuhause im Dorf auf. Währenddessen unternahmen ihre Eltern in der fremden Schweiz alles, um das anfängliche Elend zu überwinden. Mit dazu gehörte auch, den Argwohn und die Feindschaft der einheimischen Bevölkerung schweigend hinzunehmen. Mit Beharrlichkeit und im Glauben an ein gutes, freies Leben schafften sie den sozialen Aufstieg. Sie führten im Dorf am Zürichsee zuerst eine Wäscherei, 1993 eröffneten sie am Bahnhof ihr Café Mondial. Zu diesem Zeitpunkt leben die beiden Töchter längst schon bei den Eltern; die Familie hat das Schweizer Bürgerrecht erworben (kraft des dazu gehörigen Eignungstests) und ist wegen ihrer Arbeitsamkeit mehr als nur geduldet.

Melinda Nadj Abonji erzählt die Geschichte dieser gelingenden Emigration und Integration im Wechsel zweier Erzählebenen. Während der Betrieb des Café Mondial die Kraft aller, auch der mitarbeitenden Töchter benötigt, verströmen die eingestreuten Erinnerungen an Besuche zuhause im vojvodinischen Dorf ein wenig Ferienstimmung. Einmal im Jahr fuhr die Familie mit Vaters braunen Chevrolet bei der Verwandtschaft vor: bei Mamika, Onkel Móric, Tante Manci oder dem Cousin Béla. Das elegante Auto und die mitgebrachten Geschenke demonstrieren den neu gewonnenen Wohlstand. Von dem Preis, der dafür entrichtet wird, ist dabei kaum die Rede. Hartnäckig ruft das alte Dorf heimatliche Gefühle hervor. Die hitzigen Emotionen zwischen den Brüdern um politische Fragen und die zärtliche Vertrautheit im Familienkreis, dies hilft für ein paar Wochen über die versteckte Ablehnung in der neuen Schweizer Heimat hinweg. Der Grat zwischen Lebensmut und Gefühlen der Demütigung ist indes schmal.

Mit dem neuen Krieg 1992 aber enden die Besuchsfahrten. Vor dem Hintergrund des sinnlosen Ringens wächst im Café Mondial die Sorge um die Daheimgebliebenen. Janka, die Halbschwester von Ildikó und Nomi, flüchtet nach Ungarn in ein Lager, und Cousin Béla wird in die serbische Armee eingezogen. In der Küche verzweifelt die Hilfskraft Dragana schier darüber, dass ihr Kind im belagerten Sarajevo lebt. Würde es verwundet, könnte es vielleicht privilegiert ausreisen – derart pervertiert die Sorge ihre Gedanken. Für Ildikó hält die stumme Zwiesprache mit Mamika den verlorenen Kontakt aufrecht. Dabei geht es nicht nur um familiäre Sorgen.

Aus Ildikós Perspektive erzählt Nadj Abonji ihre Emigrationsgeschichte(n): lebhaft, farbig, mit Witz auch die tiefe Kluft zwischen Abschied und Ankommen auslotend. Dabei erweist sich die Autorin als virtuose Stilistin, die erzählerische Anschaulichkeit in eine musikalisch äußerst biegsame Form zu bringen versteht. Sie versteift sich nicht auf ein genaues Nacherzählen, sondern arbeitet mit Verschlingungen, Repetitionen und Verschachtelungen subtil eine rhythmische Struktur heraus, die sich trotz allem leicht liest. Am eindrücklichsten beweist sie dies in einem der letzten Kapitel. Eine Schweinerei auf dem Klo des Café Mondial setzt für Ildikó eine Zäsur: Während sie die mutwillig hingeschmierte Scheiße wegputzt, reift in ihr die Gewissheit, dass sie von zuhause weg muss. Ein zweiter Abschied ist notwendig, der Abschied von den Eltern. Sie schaut sich ein letztes Mal im Café um, im Dorf, derweil ihr die Mutter erklärt, wie sie gelernt hat, über Anfeindungen und Demütigungen zu schweigen. Nadj Abonji verwebt die beiden Erzählpassagen in einer gegenläufigen Parallelkonstruktion meisterhaft ineinander.

„In dieser Zeit, Ildi, habe ich nie geträumt, nie, sonst wäre ich verloren gewesen, und ich gehe weiter, an der Apotheke vorbei, überquere eine Straße… am Schuhgeschäft vorbei, an einem Schaufenster, in dem Brillengestelle an durchsichtigen Fäden hängen. Als ihr, Nomi und du, so lange Zeit nicht bei uns wart, das war ein großes Opfer – zu groß?, und ich hebe meinen Kopf, schaue zur protestantischen Kirchturmuhr, die Zeiger, die goldgelb leuchten“.

Beide behalten sie, auf je eigene Weise, Recht. Einerseits die verbissene Duldsamkeit der Eltern, die ein Ziel vor Augen hatten und dieses gegen alle Widerstände erreichten, auch für ihre Kinder. Und demgegenüber Ildikó, die davon nichts mehr wissen will, weil sie die zweite Freiheit gewinnen will. Diese Kluft zwischen den Generationen ist nicht leicht zu überbrücken. Dies würde erst gelingen, wenn Ildikó in ihrem eigenen Leben angekommen ist und das Unnennbare kennen gelernt hat, das sie die Begegnung mit Dabor lehrt.

Indem die Autorin diesen Konflikt hartnäckig herausarbeitet, schafft sie einen neuen, zweiten Kontext für ihre Emigrationsgeschichte. Was der einen Generation zuträglich ist, muss der anderen als demütigender Kniefall erscheinen. Dass Ildikó eine billige Wohnung an lauter Verkehrslage bezieht, kann Vater Miklós unmöglich verstehen: Es muss ihm als Abstieg aus dem erarbeiteten Wohlstand zurück in alte Zeiten und Verhältnisse erscheinen. Für Ildikó dagegen ist es ein Neuanfang. Irgendwann in der Zukunft erst würden sich beide verstehen.

Es mag vielleicht überraschen, dass „Tauben fliegen auf“ Aufnahme auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreises 2010 gefunden hat. Nadj Abonji ist eine noch wenig bekannte Stimme im deutschen Literaturbetrieb – wobei Stimme hier durchaus auch wörtlich zu nehmen ist. Denn Nadj Abonji hat sich im Bereich der Musik- und Wortperformance bereits einen guten Namen geschaffen.

Titelbild

Melinda Nadj Abonji: Tauben fliegen auf. Roman.
Jung und Jung Verlag, Salzburg 2010.
320 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783902497789

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