Formenverschleifung

Ursula Reber zeigt uns im Ornament die Anderswelt

Von Jost EickmeyerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jost Eickmeyer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Metamorphosen stehen allenthalben hoch im Kurs. Selbst wenn man vom funktionalen Gebrauch des Terminus für Phänomene in Flora und Fauna absieht, dürfte man ihm auch anderswo kaum entgehen. Da sind Künstler in ihrem Schaffen Metamorphosen unterworfen, anderswo werden sie gar zum Prinzip von Literatur und Wissenschaft erhoben, und nimmt man nun speziell das gleichnamige literarische Werk Ovids in den Blick, so stehen dessen „Metamorphosen“ ihrerseits bis heute im Zeichen steter Wandlungen, eben der Metamorphosen der Metamorphosen, wie eine unterdessen zum Klassiker avancierte Studie zum Thema betitelt ist. Kann man aus diesem ubiquitären Begriff noch Erkenntnisgewinn ziehen? Oder: Kann man ihn so eingrenzen oder beschneiden, dass tatsächlich noch eine neue Perspektive oder Facette an ihm zu leuchten beginnt?

Ursula Reber ist klug genug, in ihrer Dissertation „eine Theorie der Metamorphose“ anzubieten. Weiß sie doch um jene Wandelbarkeit, die auch dem Diskurs über die Wandlung notwendig zu eigen ist und die abschließende Theoriegebäude und definitorische Schlusssteine praktisch nicht zulässt. Zur Darstellung dieser einen Theorie spannt Reber einen denkbar weiten Bogen, indem sie als Exempel Ovid selbst, Clemes Brentanos „Rheinmärchen“, Richard Beer-Hofmanns „Der Tod Georgs“ und Alban Nikolai Herbsts fantastisch-kybernetische Romane, vornehmlich „Wolpertinger oder Das Blau“ heranzieht. Vier Dichter, die zwar, grob betrachtet, je an einer Jahrhundertwende angesiedelt sind, jedoch ansonsten kaum etwas gemein zu haben scheinen. Wer würde schon den Erotiker und berühmtesten Exilanten der Literaturgeschichte mit einem Wunderhorn-Kollaborateur und nachmaligen katholischen Schwärmer, einem berüchtigten Dandy des vorletzten fin de siècle und einem postmodernen Science-Fiction-Autor zusammenspannen, um dann zu sehen, was passiert? – Bei Reber gelten die genannten Dichter bei aller Disparatheit als Manieristen, und es gelingt der Autorin, dieses in Literatur- und Kunstgeschichte oft scheel beäugte, kaum recht definierte Phänomen fruchtbar zu machen: Manieristen sind Autoren jener Werke, die ausgiebig und grundlegend vom metamorphotischen Schreiben geprägt sind. Dieser Schreibart spürt Reber auf den folgenden gut vierhundert Seiten nach, stellt aber zunächst ein theoretisches Raster auf, das den Texten unterlegt werden soll.

Überzeugend plädiert die Autorin zunächst – gegen manche neuere Tendenz der Altphilologie – für einen weiten Metamorphosen-Begriff, der alle Verwandlungen Ovids gleichermaßen umfasst, und stellt sogleich ihrerseits eine Kategorisierung auf in ornamentale & maschinelle, unechte & missglückte, stockende & aufgehaltene Metamorphosen. Diesen drei Klassen tritt als vierter Aspekt das Proteische und Amorphe hinzu, das die Grundlage für jede Verwandlung bildet. Zugleich stellt die Autorin ihre Perspektive als eine dezidiert narratologische und poetologische vor, die Stoff- und Motivgeschichte weitgehend ausklammert. Das hat den positiven Effekt, dass katalogartige Aufzählungen von Ovid-Imitationen unterbleiben und dass auch ‚übliche Verdächtige‘ wie Franz Kafka und Christoph Ransmayrs ubiquitäre „Letzte Welt“ getrost fortbleiben können. Indem sie reflektiert auf theoretische Überlegungen etwa Gilles Deleuzes/Felix Guattaris, Michel Foucaults und Roland Barthes’, aber auch Harold Blooms und Michail Bachtins zurückgreift, kann die Autorin ihr Metamorphosen-Konzept in verschiedene Richtungen erweitern; etwa auf eine textuelle Dimension, wenn sie Architextualität als Kernmerkmal metamorphotischen Schreibens charakterisiert, oder den allgegenwärtigen Gestaltwandel als Movens der Ironie erkennt. Oder auch wenn sie den Moment der Metamorphose als Un-Ort zwischen zwei festen Zuständen deutet und dessen – an sich unmögliche – Repräsentation bald bildwissenschaftlich (etwa auf das Kino-Bild hin) deutet, bald Ähnlichkeiten zu psychoanalytischen Diskursen, etwa Trieb-Konzeptionen aufweist.

So gewappnet, lässt sich der Leser gern ins Inferno der Texte führen, wo ihn ein Gewimmel von Wandlungen, Aitiologien, Todesräuschen und Lappenschleusen erwartet. Reber wendet sich zunächst ausführlich dem Urtext Ovids zu und liefert eine überzeugende Gliederung der fünfzehn Bücher nach Grundthemen, an der künftige Ovid-Interpreten sich orientieren werden. Aus ihrer profunden Textkenntnis und dem souveränen Überblick über die Forschung will die Autorin einerseits zeigen, dass Ovids Werk „in der Tat ‚sich selbst‘, nämlich Metamorphosen, Formenverschleifungen“ abbilde, andererseits diese Verschleifungen gleichsam wie von einem roten Faden von körperlicher Gewalt und Grausamkeit (man denke nur an den geschundenen Marsyas) sowie von der ständigen Vernichtung oder Verhinderung des Heldentums durchzogen werden. Gerade letzteres setzt Ovids Werk abermals in scharfen Kontrast zum augusteischen Staatsdichter Vergil. Diese Deutungen sind ebenso plausibel wie ihre Skepsis, ob ein Todorov’scher Fantastik-Begriff wirklich auf den antiken Epyllien-Reigen mit seiner vielperspektivischen Offenheit anzuwenden sei. Lediglich wenn Reber Ovid als einen ausgesprochen anti-pythagoreischen Dichter präsentieren will, der in seinem Werk das Geschehen als reine Kontiguität dargestellt habe, ist Vorsicht geboten. Hat doch Ovid selbst Pythagoras in sein Universal-Gedicht aufgenommen und ihm im fünfzehnten Buch eine lange und berühmte Rede in den Mund gelegt – die Reber allerdings ausklammert.

Für Brentanos „Rheinmärchen“ weist die Autorin zunächst Strukturanalogien zu Ovid auf, sowohl was die Darstellung einzelner Personen (Flussgötter oder ähnliche) als auch was die narrative Struktur des wechselseitigen Erzählens angeht. Positiv fällt auf, dass sie dabei nie die Unterschiede von Metamorphose und Märchen nivelliert, wie es mittlerweile immer wieder vorkommt, sondern gleich eingangs eine luzide Abgrenzung von beiden vornimmt. Metamorphose ist im „Rheinmärchen“ nicht eigentlich Gegenstand der Erzählung, sondern gleichsam kosmisches Prinzip der Handlung, des abwechselnden Übergangs von Ordnung in Unordnung. Zugleich jedoch werden solche Ordnungstendenzen auf der Darstellungsebene durch Brentanos Technik der fortwährenden Gattungs- und Stilmischung konterkariert, wofür die Autorin den Rhein als „Erzählfluss“ im Wortsinne und seine Tochter Loreley als Chiffre für die Erzählkohäsion plausibel machen kann. Als Hauptelement, das dieses perpetuum carmen Brentanos zusammenhält, identifiziert Reber das Ornament, die scheinbar zunächst nebensächliche Bemerkung einer Erzählstimme, die in einer wiederum anderen (Binnen-)Erzählung genealogische oder aitiologische Funktion erhält. Insgesamt kann sie so Brentanos changierenden Text als einen Vertreter des metamorphotischen Stils um 1800 profilieren, der als solcher seine Verwandtschaft mit Ovids Metamorphosen unter einem weiten Begriffe des Manierismus offenbart.

Mit dem „Tod Georgs“ führt uns Reber dann ins Kernland des Manierismus, wo er an Jugendstil und Impressionismus grenzt. Erwartungsgemäß spielen nun psychoanalytische Deutungsweisen eine zunehmend größere Rolle, wie auch Einflüsse der Lebensphilosophie auf Beer-Hofmann und moderne Subjektskonstitutionen zur Sprache kommen. Poetologisch kann Reber nun vor allem ihre Kategorien der maschinellen und der aufgehaltenen Metamorphose in Anschlag bringen, zeigt sie doch, wie Beer-Hofmanns manieristische Sprachgestaltung den Erzählfluss Ovids geradezu eisig erstarren lässt. Am greifbarsten geschieht dies im ‚Tempeltraum‘ Pauls, wenn ein entindividualisiertes Kollektiv-Wesen sich im Rahmen eines gänzlich entgötterten Ästhetik-Kultes maschinell-orgiastisch befriedigt und zugleich vernichtet. Reber gelingen in ihrer Deutung subtile Beobachtungen zur sprachlichen und stilistischen Ornamentik und teils überraschende Bezüge auf Märchen- und Metamorphosen-Erzählungen. Hier ist nicht nur der, für die Moderne symptomatische Narziss zu nennen, sondern vor allem die Deutung des ménage-à-trois zwischen Narziss, seinem Spiegelbild und Echo als ein gleichsam zerlegter Hermaphroditus. Anhand einer ganzen Reihe von Themen und Motiven, die Beer-Hofmann metamorphotisch abwandelt, zeigt Reber, wie der Autor nur scheinbar Vertrauen auf die mimetische Kraft der Sprache für das Leben zeigt, während die metamorphotische Erzählung nach und nach Sprache allenfalls als Spur desavouiert, noch dazu als schwer dechiffrierbare. Dass Paul, der Erzähler, oder vielmehr: Er-Träumer von „Der Tod Georgs“ am Schluss den Mythos des jüdischen Blutes gleichsam als Ausstiegsmöglichkeit aus dem Zyklus der Wandlungen beruft, zählt nach Rebers Beobachtungen nicht unbedingt zu den Stärken dieses Werkes.

Schließlich stehen mit Alban Nikolai Herbsts Erzählkosmos die Metamorphosen in Zeiten des Cyberspace im Mittelpunkt. Reber wendet sich nun ihrer Wirkung auf Räume zu, denn sie spielen, meist in der utopisch-urbanen Variante der „Anderswelt“-Trilogie, eine zentrale Rolle in Herbsts Werk. Waren bei Ovid und Brentano lokale und topografische Zuweisungen noch durch Aitiologien gesichert, so werden sie bei Herbst nicht nur von der Metamorphose hervorgebracht, sondern vollends von ihr affiziert, verwandeln sich also mit ihr, in ihr und durch sie. Durch genaue und aufmerksame Lektüre vor allem des „Wolpertinger“, doch flankierend auch von „Thetis“ und „Buenos Aires“ kann Reber die profunde Instabilität dieser intermedial verschränkten, teils virtuellen Erzählwelten aufweisen, die sich sowohl zeitlich als auch räumlich (Zeitschleifen und räumliche Überlappungen), figural (Figuren sind identisch und doch verschieden), motivisch (Mythen drohen in Slapstick zu kippen oder umgekehrt) und ideologisch (Terroristen werden zu zwanghaften Poeten) auswirkt. Gerade die Erzählerfigur, oder ihre Vielheit, kann so als Weiterentwicklung des romantisch-fantastischen Doppelgänger-Motivs kenntlich werden, wobei die Autorin ebenso mit Hilfe von Deleuzes/Guattaris Konzept der Deterritorialisierung und Reterritorialisierung nachweisen kann, wie all diese Erzähler-‚Subjekte‘ um die Macht über ihre eigene beziehungsweise tendenziell die gesamte Erzählung ringen – um damit bei Herbst stets zu scheitern. So ist es folgerichtig die Grundeigenschaft hinter jeder Wandlung, das Proteische, was bei Herbst am deutlichsten von allen Exempeltexten zu Tage tritt, denn im Gegensatz zu Ovids (in)dividuellen Metamorphosen, die teils sogar das Individuum in die Spezies wendeten (eben Narcissus zu Narzisse), Brentanos aitiologisch gestützen Transformationen, die stets als Fortsetzung oder Aufhebung anderer (in)dividueller Metamorphosen fungieren, und Beer-Hofmanns Tempeltraum, der die ent-individualisierende Metamorphose in eine Vielheit geradezu negiert, sind bei Herbst Hauptfiguren, etwa Anna/Alda/Titania im „Wolpertinger“, immer schon Vielheit, um die herum sich jene Metamorphosen akzidentiell gruppieren, die etwa Deters/Cordes in ernsthafte Existenznöte versetzen.

Es ließen sich viele weitere Deutungsschichten anführen, die Reber im Gang ihrer Interpretationen offen legt, etwa wenn sie Herbsts Megacities aus der Perspektive einer metamorphotischen Architektur beleuchtet oder der Konstruktion und Destruktion des Weiblichen sowohl bei Beer-Hofmann als auch bei Herbst nachspürt. Hier seien nur die allgemeinen poetologischen Implikationen ihrer Theorie des Metamorphotischen zusammengefasst: Sie ist zu trennen einerseits von einer modernen Metamorphosen-Theorie, die Fragen nach Körperlichkeit und Embodiment vernachlässigt, anderseits von jeder Form der Parodie, da die potentiell unendliche Reihung der Wandlungen jede denkbare Parodie bereits mit einbegreife. Reber will gerade auch die körperliche Affizierung der Leserin für das metamorphotische Schreiben veranschlagen, wodurch es in die Nähe von Fantastik und Pornografie rückt, für die bereits Ähnliches postuliert wurde. Gleichzeitig lenkt sie aus Autorenperspektive den Blick auf eine (manieristische) unendliche Serialität, der man entweder die Unsterblichkeit des Dichters einschreiben (Ovid), durch Flucht in eine andere Welt entgehen (Brentano) oder ein Postulat eschatologischer Konstanz (Beer-Hofmann) entgegen setzen kann, dabei freilich immer Gefahr laufend, nur an die Schnittstelle zu einer weiteren Simulation zu gelangen (Herbst).

Inhaltlich ist nichts zu beanstanden an dieser epochenübergreifenden Poetik des proteischen Stils. Umso bedauerlicher wirkt manchmal der umständliche Sprachstil der Autorin selbst mit unnötigen Schachtelungen von Klammern und Parenthesen, die nicht unbedingt flüssige Übergänge erzeugen. Störend fällt zudem die ungleichmäßige Redaktion des Bandes auf, in dem einzelne Tipp- und Syntaxfehler stutzen machen, teils auch den Sinn entstellen. Zwar kann die Leserin daran die Metamorphose von Rebers eigenen Textsegmenten zum Buch, punktuell fixiert, nachvollziehen, findet sich in Einzelfällen jedoch vor einer semantischen Leerstelle zurück gelassen. Merkwürdig auch, dass Verszitate aus Ovid als Prosatext präsentiert, allenfalls im Blockzitat die Versgrenzen markiert werden. So geht eine ästhetische Qualität des Originals verloren, ohne dass mit dem Prosa-Satz ein augenfälliger Nutzen erbracht würde. Schade ist obendrein, dass der Fink-Verlag die offenbar von der Autorin mit Bedacht und Kenntnis ausgewählten flankierenden Illustrationen recht klein und in teils mäßiger Qualität reproduziert. Eine Studie, die selbst so stark von der bildlichen Qualität der Metamorphose ausgeht, hätte eine bessere Bildqualität verdient.

Doch solche Kleinigkeiten trüben den Gesamteindruck einer beeindruckenden wissenschaftlichen Leistung kaum. Ursula Reber legt sowohl vier subtile und plausible Einzelstudien zu literarischen Werken vor, vereint sie aber zugleich souverän unter dem Paradigma des Metamorphotischen und rehabilitiert dabei – en passant – den Manierismus als literaturwissenschaftliches Arbeitsfeld.

Titelbild

Ursula Reber: Formenverschleifung. Zu einer Theorie der Metamorphose.
Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2009.
434 Seiten, 49,90 EUR.
ISBN-13: 9783770547043

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