Es geht auch ohne Kaiser

Hildegard Kretschmer-Mellenthins „Städteführer Wien“ und der von Christian Brandstätter herausgegebene Bildband „Wien“ zeigen nicht nur die k. u. k.-Herrlichkeit der österreichischen Hauptstadt

Von André SchwarzRSS-Newsfeed neuer Artikel von André Schwarz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wien ist eine schöne und aufregende Stadt – nur merkt man das kaum, wenn man vor Ort die Ringstraße entlangflaniert und von den ganzen prachtvollen Bauten fast erschlagen wird. Besonders aufdringlich präsentiert sich die omnipräsente zuckerbäckerartige k.u.k.-Herrlichkeit am Heldenplatz und in der Hofburg. Hier kann man sich vor älteren Sissi-Verehrern kaum retten, die mit kurzen Hosen und den unvermeidlichen Digitalkameras kreuz und quer herumirren. Hat man dann immer noch nicht genug vom Monarchie-Kitsch, dann kann man sich noch auf den Weg nach Schloss Schönbrunn machen, den feudalen Prunk bestaunen und das Frisiertischchen von Elisabeth von Österreich aus allen Perspektiven ablichten.

All dies findet sich natürlich auch in Hildegard Kretschmers „Reclams Städteführer Wien“, der dem Besucher der österreichischen Hauptstadt deren Architektur und Kunst nahebringen möchte. Doch vernachlässigt der Band nicht die eigentlichen Sehenswürdigkeiten der Donaumetropole, etwa das von Adolf Loos gebaute und seinerzeit einen kaum vorstellbaren Skandal verursachende Haus am Michaelerplatz, das Postsparkassenamt von Otto Wagner, die zahlreichen Bauten des „roten Wien“ oder die futuristische Kirche „Zur heiligsten Dreifaltigkeit“ im XXIII. Bezirk. Die Artikel zu den einzelnen Bauwerken sind zwar recht knapp gehalten, nennen aber dennoch die wichtigsten Details und sind solide verfasst. Kretschmer teilt das Buch in vier große Abschnitte (Innere Stadt, Ringstraße, das Gebiet zwischen Ring und Gürtel sowie die Außenbezirke) ein und widmet sich jeweils erst den Sakral-, dann den Profanbauten, schließlich den Museen und sonstigen Sehenswürdigkeiten. Das ist zwar eine recht klare Gliederung, doch praktisch ist das Ganze nur bedingt, denn vor Ort muss der geneigte Besucher ständig im Buch hin- und herblättern. Schöner wäre es hier gewesen, hätte man sich, wie in vielen Reiseführern, an unterschiedlich ausführlichen Rundgängen orientiert – zumal die Autorin selbst zu Beginn des Bändchens solche ein- bis mehrtägige Touren benennt. Die Artikel zu den einzelnen Museen hätten auch gerne etwas ausführlicher ausfallen können, in Sachen Architektur bietet der Band weitaus mehr Material als für die Bildende Kunst, doch dies ist wohl dem begrenzten Platz der Reihe und der Masse an erwähnenswerten Sehenswürdigkeiten in der Stadt geschuldet. Hilfreich ist zudem der 24 Seiten umfassende Anhang, der mit zwei Übersichtskarten, weiterführenden Informationen und einem umfangreichen Objekt- und Personenregister aufwartet.

Ebenfalls mit erfreulich wenigen Monarchenbildern und -herrlichkeit wartet ein anderes Buch auf, das dem Betrachter das k.u.k.-Wien um 1900 mittels colorierter Fotografien präsentiert. Auf über 300 Bildern erhält man einen Einblick in die Welt um die Jahrhundertwende. Die Glas-Dias, die als Vorlage für die Reproduktion dienten, stammen aus der Sammlung der Wiener Urania und wurden erst vor kurzem in den dortigen Kellerarchiven wiederentdeckt. Die Besonderheit dabei: Die ursprünglich schwarzweißen Bilder wurden einst für Vorträge in der Urania von Miniaturmalern von Hand coloriert – so ergibt sich ein ungewöhnlicher Blick auf das Dargestellte. Einige der Bilder kennt man bereits aus Felix Saltens Prosaskizzen „Wurstelprater“ (1911), das mit schwarzweißen Fotos von Emil Mayer versehen war – nun kann man diese auch in Farbe betrachten. Ein Manko des Bandes sei aber in diesem Zusammenhang auch angesprochen: Von wem die Fotos jeweils stammen, wird nicht dokumentiert, was aber wohl zumeist der unsicheren Quellenlage geschuldet sein dürfte. Gegliedert werden die Fotografien sinnvollerweise nach den einzelnen Wiener Bezirken, ausgehend vom I. Bezirk, der Innern Stadt, bis hin zu den in jener Zeit eingemeindeten Vororten in den Außenbezirken. Besonders deutlich wird hierbei der Wandel vom großstädtischen Raum hin zu dörflich geprägtem Leben im Vergleich zwischen den Aufnahmen aus dem innerstädtischen Bezirken und jenen aus dem XIX. Bezirk in Sievering, Heiligenstadt, Döbling oder Nussdorf. Hier scheint die Welt noch unberührt von Industrie, Verkehr und Hektik. Stellt man diesen geradezu idyllisch erscheinenden Postkartenbildern die Aufnahmen der immer weiter voranschreitenden Industrialisierung, etwa im Simmeringer Gaswerk (XI. Bezirk), entgegen, so kann man erahnen, welchen Veränderungen der sozialen und wirtschaftlichen Strukturen sich die Einwohner in jenen Jahren gegenübersahen. Doch der Band versammelt nicht nur repräsentative Fotos, sondern gewährt auch einen – knappen – Blick auf die Kehrseiten der herrschaftlichen Stadt und der industriellen Revolution. Hier finden sich Holzsammler, ärmliche Hausierer, zerlumpte Bettler und Tagelöhner, die ihr Quartier in den unterirdischen Schächten und Kanälen aufgeschlagen haben. „Wien. Die Welt von gestern in Farbe“ bietet also ebenfalls mehr als bloße k.u.k-Herrlichkeit, sondern vielmehr einen erstaunlich umfassenden Einblick in das Alltagsleben im Wien der Jahrhundertwende.

Titelbild

Christian Brandstätter (Hg.): Wien. Die Welt von gestern in Farbe.
Christian Brandstätter Verlag, Wien 2007.
224 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-13: 9783850332378

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Titelbild

Hildegard Kretschmer-Mellenthin: Reclams Städteführer Wien. Architektur und Kunst.
Reclam Verlag, Ditzingen 2010.
294 Seiten, 8,80 EUR.
ISBN-13: 9783150186961

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