Begegnung mit einem ‚romantischen Klassiker‘

Über Detlef Kremers Handbuch zu E.T.A. Hoffmann

Von Nikolas ImmerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nikolas Immer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Am 1. Mai 1795 schreibt E.T.A. Hoffmann an seinen Freund Theodor Gottlieb von Hippel: „Das Studieren geht langsam und traurig – ich muß mich zwingen ein Jurist zu werden.“ Studierende der Germanistik hingegen, die sich heutzutage mit dem Werk Hoffmanns beschäftigen, sollten ihren Freunden jedoch Gegenteiliges mitteilen dürfen: ‚das Studieren geht schnell und freudig‘ – dank des Handbuchs von Detlef Kremer.

Dieses Handbuch ist zuerst 2009 in der Reihe „de Gruyter Lexikon“ herausgekommen und jetzt in zweiter, ergänzter Auflage erschienen. Gemäß dem gegenwärtigen Standard autorbezogener Einführungen werden mit Blick auf Hoffmann, wie es der Untertitel verheißt, drei zentrale Schwerpunkte gebildet: „Leben – Werk – Wirkung“. Im Gegensatz zu einigen anderen Einführungswerken entpuppt sich das von Kremer herausgegebene Kompendium jedoch keineswegs als simple Zusammenschau altbekannter Fakten.

Vielmehr konzentriert das Handbuch in erstaunlicher Breite den aktuellen Forschungsstand zum Werk Hoffmanns. Maßgeblich trägt dazu die Mitarbeit vieler Fachspezialisten aus unterschiedlichen Disziplinen wie der Literatur-, Musik- und Rechtswissenschaft bei. Auch der Herausgeber Detlef Kremer, der am 3. Juni 2009 leider überraschend verstarb, galt als ausgewiesener Kenner der Romantik und insbesondere der Werke Hoffmanns. Bereits sein Studienbuch zur Romantik (2000) wurde als ein „musterhaft strukturierte[r] Band“ gelobt.

Während auf die Vorstellung von Hoffmanns Leben etwa 35 Seiten und auf die Rezeptionsgeschichte seiner Werke etwa 55 Seiten entfallen, liegt der Schwerpunkt auf der Präsentation von Hoffmanns Werk. In diesem zentralen Binnenteil werden zunächst „Literarische und diskursive Voraussetzungen“ expliziert, das heißt, Hoffmanns Schreiben wird eingangs in den ideengeschichtlichen Rahmen frühromantischer Theoriebildung, romantischer Psychologie und Medizin sowie romantischer Natur- und Sprachphilosophie gestellt. Diese sachkundigen Kontextualisierungen schaffen einen Wissenshorizont, der die Wahrnehmung bestimmter semantischer Tiefenschichten in Hoffmanns Werk überhaupt erst ermöglicht.

Der eigentliche Akzent liegt selbstverständlich auf dem literarischen Werk. Gleichwohl werden in den Großkapiteln des Hauptteils auch der Komponist, der Jurist und der Brief- sowie der Tagebuchschreiber Hoffmann gewürdigt. Als besonders hilfreich ist das Großkapitel zu den „Systematische[n] Aspekte[n]“ anzusehen, das Lexikoncharakter aufweist: In alphabetischer Reihenfolge werden hier Figuren, Motive und Schreibweisen aufgegriffen, die als strukturell kennzeichnend für Hoffmanns literarisches Werk gelten (etwa ‚Arabeske’, ‚Automaten‘, ‚Serapiontik‘ und andere.). Da das Kapitel den Ausführungen zum musikalischen Werk und zum juristischen Wirken Hoffmanns nachgestellt ist, hätte es jedoch präziser mit ‚Systematische Aspekte in Hoffmanns literarischem Werk‘ überschrieben werden sollen.

Der biografische Abriss ist von Hartmut Steinecke verfasst, der seinerseits eine Hoffmann-Monografie im Reclam-Verlag (1997) vorgelegt hat. Zweifellos lässt sich Hoffmanns Lebensweg anhand dieser Darstellung problemlos verfolgen, nur bleibt auffällig, dass sich Steineckes Ausführungen oftmals als gekürzte Fassung seiner Monografie identifizieren lassen. Sichtbar wird dieser Umstand insbesondere dort, wo er das Selbstporträt von 1820 nennt, das nach dem Zeugnis von Julius Eduard Hitzig dem ursprünglichen Aussehen Hoffmanns am ähnlichsten sei. Während das – zugegebenermaßen äußerst bekannte – Selbstporträt in Steineckes Monografie abgebildet ist, wird im Handbuch gänzlich auf Abbildungen verzichtet. Hoffmanns Verbindung zu Hitzig lässt sich allerdings sofort in dem sehr benutzerfreundlichen Verzeichnis „Bekannte und Zeitgenossen E.T.A. Hoffmanns“ nachschlagen.

Was die Behandlung der literarischen Werke angeht, werden eingangs eines jeden Artikels stets die entstehungsgeschichtlich relevantesten Daten geliefert, doch folgt der Aufbau der Artikel keinem starren, übergreifenden Muster. Das hat den Vorteil, dass bewusste interpretatorische Akzentsetzungen vorgenommen werden können, ohne dass dabei die differenten Deutungsansätze der Forschung vernachlässigt werden müssten. Ein Nachteil dieses Verfahrens besteht aber darin, dass Uneinheitlichkeiten entstehen, was etwa an der Präsentation von Hoffmanns Erzählsammlungen deutlich wird. Die spezifische Anlage der jeweiligen Sammlung wird bei den „Fantasiestücken“ unter dem Abschnitt „1. Entstehung und Struktur der Sammlung“, bei den „Nachtstücken“ unter dem Abschnitt „4. Komposition der Sammlung“ und bei den „Serapions-Brüdern“ schlicht unter dem Abschnitt „3. Aufbau“ erläutert.

Wird der gelungene Artikel von Uwe Wirth zum „Goldenen Topf“ exemplarisch aufgegriffen, fällt sogleich auf, dass Wirth nicht nur mit einprägsamen Binnenüberschriften wie „Schreibszenen zwischen Chemie und Wahnsinn“ arbeitet, sondern auch eine konzise Zusammenfassung der Deutungsaspekte in „vier motivische Schwerpunkte“ liefert. Vor allem die von Michel Foucault und Roland Barthes hergeleiteten Überlegungen zu den „Metamorphosen von Schreiber und Schriftsteller“ erhellen Anselmus‘ Entwicklungsgang vom heteronomen Kopisten zum autonomen Poeten. Fraglich bleibt nur, ob etwa Wirths These von der „Aufpfropfung als Hybridisierungsoperation“ auch von der „breiten, interessierten Öffentlichkeit“ nachvollzogen werden kann, für die, so Kremer im Vorwort, das Handbuch geschrieben ist.

Als hochinteressant erweisen sich die Großkapitel zum Komponisten und Juristen Hoffmann. Werner Keil, der das „Musikalische Werk“ behandelt – das im Gegensatz zum „literarischen Werk“ auffälligerweise mit Majuskel geschrieben wird –, verzeichnet nicht nur Hoffmanns erhaltene Kompositionen, sondern erläutert auch anhand von mehreren Notenbeispielen die Nonkonformität von Hoffmanns vielfach spiegelsymmetrisch aufgebauten Musikwerken. Hartmut Mangold unterrichtet daneben kundig über Hoffmanns juristischen Werdegang, indem er beispielsweise die behördlichen Verflechtungen der königlichen „Immediat-Untersuchung[s]-Kommission“ offenlegt, welcher Hoffmann als Strafrichter angehörte. Es ist beeindruckend zu sehen, wie prinzipienfest Hoffmann versuchte, gegen juristische Willkür vorzugehen, um den „‚Sicherheitsabstand‘ zwischen Staat und Individuum“ zu wahren.

Der letzte große Teil des Handbuchs widmet sich der Rezeption von Hoffmanns Werk, wobei es bei einem so vielschichtigen und facettenreichen Autor kaum verwundert, dass einige literarische Rezeptionslinien nur angedeutet werden können. Die ausgeführten Vergleiche mit Edgar Allan Poes „The Fall of the House of Usher“ oder mit Gustav Meyrinks Roman „Der Golem“ machen vielmehr kenntlich, wie produktiv Hoffmann auf seine neuromantischen Nachfolger gewirkt hat. Bedauerlich ist nur, dass dort, wo die Illustrationen des bekannten Buchgestalters Hugo Steiner-Prag als direkte Rezeptionszeugnisse angeführt werden, keine Abbildung dieser bildkünstlerischen Umsetzungen erfolgt. Ein Ausblick auf die Wirkung von Hoffmanns Werk im Film und auf Grundzüge der Hoffmann-Forschung rundet den Rezeptionsteil ab.

Am Ende des Handbuchs finden sich ein übergreifendes Literaturverzeichnis, eine knappe Zeittafel sowie ein Personen- und Werkregister. Das ohnehin sehr klar strukturierte Handbuch gewinnt damit nochmals an Benutzerfreundlichkeit. Im Gegensatz zu vergleichbaren Kompendien wird jedoch auf ausgewählte bibliografische Angaben verzichtet, die andernorts auf die Einzelerläuterungen zu den literarischen Werken folgen. Es wäre zu überlegen, ob für eine dritte Auflage des Handbuchs nicht ebenfalls eine solche Darstellung anzustreben ist, da die kommentierten Auswahlbibliografien vor allem Studierenden den Umgang mit der Forschungsliteratur erleichtern.

Es bleibt festzuhalten, dass Detlef Kremer mit seinem Handbuch einen überaus produktiven Beitrag zur Hoffmann-Forschung geleistet hat. Die multiperspektivische und interdisziplinäre Aufarbeitung des Hoffmann’schen Œuvres führt nicht nur Erstleser an dessen vielseitiges Werk heran, auch vermag sie dem Fachwissenschaftler konstruktive Impulse zur Vertiefung konkreter Forschungsfragen zu geben. Dank des Handbuchs scheint E.T.A. Hoffmann endlich geworden zu sein, was sich nur mit einem Oxymoron ausdrücken lässt: Ein „romantischer Klassiker“.

Titelbild

Detlef Kremer (Hg.): E.T.A. Hoffmann. Leben - Werk - Wirkung. 2. ergänzte Auflage.
De Gruyter, Berlin 2010.
672 Seiten, 159,95 EUR.
ISBN-13: 9783110229998

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