Die Gabel in der Hand

Über Sofi Oksanens Roman „Fegefeuer“

Von Thomas NeumannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Neumann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Sofi Oksanen schreibt vordergründig einen Roman über die Geschichte von mehreren Generationen Frauen in Estland. Der Zeitraum ihrer Erzählung setzt in den 1940er-Jahren ein und endet kurze Zeit nach der Öffnung Osteuropas und dem Zusammenbruch der Sowjetunion im Jahr 1992. In einer ineinander verschachtelten, nicht chronologischen Folge wird von einer Familie und besonders von ihren Frauen berichtet, die unter den verschiedenen Herrschaftssystemen immer wieder mit Gewalt konfrontiert werden. Einen Eindruck von dem Thema des Buches bekommt der Leser schon zu Beginn, als zwei Frauen der Familie erstmalig aufeinander treffen: „Aliide fasste die Sense fester. Vielleicht war das Mädchen verrückt. Vielleicht ja irgendwo ausgerissen. Woher sollte sie das wissen. Vielleicht war das Mädchen nur verwirrt, vielleicht war etwas passiert, und das Mädchen war deshalb so. Oder vielleicht war das Mädchen doch der Lockvogel einer Bande russischer Ganoven.“

Im Umgang der Personen miteinander wird durch Gesten und die klare, prägnante Sprache – in der hervorragenden Übertragung von Angela Plöger aus dem Finnischen – die Bedrohung und der Druck deutlich, dem die Protagonisten ausgesetzt sind. Letztendlich ist es Angst, die die Figuren beherrscht: „Die Angst ließ sich nieder wie in einem wohlbekannten Haus. So als wäre sie niemals fort gewesen. So als hätte sie nur irgendwo einen Besuch gemacht und wäre am Abend heimgekehrt.“ Wie diese Angst vor Gewalt, Misshandlung, Vergewaltigung und Folter die Menschen verändert, aus Opfern Täter macht, findet sich bei Oksanen vor allem in der Sprache wieder. Die Protagonistin Aliide, Folteropfer und selbst zur Täterin geworden, übernimmt die Denkstrukturen der Täter, nicht nur, wenn sie mit Gewalt konfrontiert wird, sondern auch im Alltag: „Wer an alte Wunden rührt, sollte eins auf den Hut kriegen. Direkt auf den Kopf wäre freilich besser.“

Der Roman stellt die Figuren differenziert dar, erlaubt Wandlungen und Komplexität der Charaktere und lässt auch die Opfer durchaus als unangenehme Zeitgenossen erscheinen. Dabei bedient sich die Autorin kenntnisreich aus dem Verhaltensarsenal menschlicher Möglichkeiten, wenn Sie in einer Kombination und Subtilität, Stumpfheit und Gewalttätigkeit die Folgen von Vergewaltigung und Folter bei einem kleinen Mädchen zeigt: „Einmal überraschte Aliide Linda dabei, wie sie mit der Gabel auf ihre eigene Hand einstach. Linda wirkte abwesend und zugleich konzentriert, die straff geflochtenen Zöpfe spannten ihr die Schläfen, und sie bemerkte Aliide nicht. Das Mädchen zielte auf die Handfläche und stach zu.“

Wenn man mit solchen Bildern nicht überfordert ist, wenn man lesen möchte, wie für die Zerstörungen, die Gewalt an Menschen bewirkt, eine präzise Sprache und metaphorische Bilder gefunden werden, wer an einem differenzierten Bild vom Menschen interessiert ist, in dem die Opfer zu Tätern und Täter zu Opfern werden und wer auch die dunkleren Phasen der europäischen Geschichte kennenlernen möchte, dem sei dieses Buch empfohlen. Sofi Oksanen hat mit „Fegefeuer“ eines der besten und interessantesten Bücher des Jahres geschrieben.

Titelbild

Sofi Oksanen: Fegefeuer. Roman.
Übersetzt aus dem Finnischen von Angela Plöger.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2010.
400 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783462042344

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch