„Du bist ganz allein dafür verantwortlich, was du tust“

Annette Mingels Roman „Tontauben“ stellt die Frage nach dem Wesen der Schuld

Von Thorsten SchulteRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Schulte

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Annette Mingels legt mit „Tontauben“ einen Roman vor, der unter die Haut geht. Hinter einem Geflecht aus Trauer, Liebe, Affären und Trennung wird subtil die Frage nach dem Wesen der Schuld gestellt. Wie eine getroffene Tontaube zerspringt in diesem Buch ein Leben, schnell, sinnlos und endgültig. Zurück bleiben Scherben.

Anne und David leben mit ihren zwei Kindern auf einer Insel in der Nordsee. In einer Unwetternacht kommt ihre 14-jährige Tochter um, sie wird auf ihrem Fahrrad im strömenden Regen von einem Auto erfasst und von der Straße geschleudert. Der Täter wird nicht gefunden. Die Tage nach dem Tod der Tochter verrinnen „langsam und gleichzeitig viel zu schnell“. Anne und David fühlen sich auf der Insel gefangen, umzingelt vom Meer – „kein Entkommen möglich“, denn die Erinnerung bleibt. Anne nähert sich ihrem Psychologen Tristan, flirtet mit ihm und sucht bei ihm nach neuer Liebe. Von ihrem Ehemann erfährt der Leser fast nichts, die Erzählung konzentriert sich auf die Innensicht der Frau.

Annes flüchtige Gedanken werden in unvollständigen Sätzen nacheinander gestellt, Beschreibungen kommen häufig ganz ohne Verben aus („Ihre groteske Aufmachung. Streng und unmodern. Aber schrille Farben. Eine Demonstration ihrer Unangreifbarkeit.“). Der in unvollständiger Syntax festgehaltene Bewusstseinsstrom von Anne lässt den Leser die Trauer mitfühlen, man taumelt mit ihr, ist verwirrt und spürt, wie es ist, „ins Leere zu treten. Unterzugehen.“ Die sanft geschwungene Dünenlandschaft der Nordseeinsel verliert in Annes Gedanken ihre Schönheit: „Die sumpfigen Deiche. In der Nacht die schwarzen Hügel. Mit Häusern bestückt wie mit Grabkerzen.“ Das schier unendliche Leid lässt erahnen, welche Kraft Anne aufbieten muss, als sie eine Selbsthilfegruppe besucht, als Maklerin ein neues Berufsleben beginnt, mit Tristan wieder lacht und eine Kirmes besucht. Alle Versuche, die Scherben zusammenzufügen, scheitern, die Trauer kehrt zurück und legt sich wie ein Schatten über ihr Leben.

Der Leser ist bemüht, die Kontrolle über seine Gefühle zu behalten. Jäh erfolgt dann aber ein Schnitt. Annette Mingels teilt ihr Buch und beginnt im zweiten Teil eine scheinbar unbeschwerte Liebesgeschichte: Es ist dieselbe Nordseeinsel, aber ein anderes Paar. Esther und Frank lernen sich während einer Mediävisten-Tagung kennen und sind beide verheiratet: „sie hatten es einander in der Nacht gestanden, zu einem Zeitpunkt, als ohnehin schon alles zu spät war.“ Nach der Affäre folgt das schlechte Gewissen. Wieder ist der Leser nahe bei der Frau. Esther beginnt, ihren Mann zu vermissen, meint gar, ihn nie zuvor so sehr geliebt zu haben wie nach dem Ehebruch. Und sogleich beschleicht Esther die Angst, ihr Mann könne ihr ebenfalls untreu sein: „Vielleicht war das der Preis, den sie bezahlen musste für diese Affäre: dass sie mit dem Vertrauen in sich auch das in ihn verlor“.

Frank hingegen scheinen Gewissensbisse fremd, arrogant und feixend lehnt er sich „in seinem Stuhl zurück“, seine Wortbeiträge erhalten in Esthers Erzählung die Adjektive „heftig“, „unbeirrt“ und sogar „peinlich“. Esther vergleicht ihn mit einem „Taschenspieler“. „Sex mit ihm zu haben war einfach. Schwierig war nur alles andere“, resümiert sie. Doch gerade Frank spricht die entscheidenden Sätze und lenkt den Blick auf die alles bestimmende Schuldfrage des Buches: „Du bist ganz allein dafür verantwortlich, was du tust, […] kein Gott und sicherlich kein obskures Schicksal“. Was kann und sollte verziehen werden? Oder gibt es am Ende nur Verlierer? Doch die Leichtigkeit der Affäre packt den Leser in Watte und lässt ihn trotz dieser Mahnung die Katastrophe aus der ersten Buchhälfte vergessen. Am Ende folgt der Schock: Esther und Frank streiten sich an ihrem letzten gemeinsamen Abend auf der Nordseeinsel. Im strömenden Regen prallt etwas gegen den Kotflügel, „als würden zwei Metallstücke gegeneinanderschlagen, aber das konnte auch Teil der Musik sein“. Immerhin beharrt Esther darauf, auszusteigen und zu suchen, vielleicht nach einem verletzten Tier. Man findet nichts und fährt weiter.

Mingels gibt keine Wertung ab. Das wäre zu einfach. Sie lässt den Leser stattdessen fassungslos zurück. Die Frage nach dem Wesen der Schuld hallt noch lange nach. Die Autorin hat eine Sprache gewählt, die unaufdringlich, ruhig und nur beschreibend ist. So hat sie ein Mittel gefunden, das den Schrecken noch verstärkt und das nicht eindringlicher hätte sein können. Näher als in diesem Buch können Liebe und Tod nicht beieinander stehen. Obwohl beide Geschichten streng getrennt stehen, sind sie doch verbunden, ohne dass die Protagonisten es je erfahren würden. Näher als in diesem Buch kann dem Leser die Trauer wohl kaum kommen.

Titelbild

Annette Mingels: Tontauben. Roman.
DuMont Buchverlag, Köln 2010.
175 Seiten, 18,95 EUR.
ISBN-13: 9783832196110

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