Der Krieg der Psychiatrie
Im Wesentlichen nichts Neues im Sammelband von Babette Quinkert, Philipp Rauh und Ulrike Winkler?
Von Sarah Mohi-von Känel
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDer Krieg der Psychiatrie: So müsste der Band eigentlich heißen, den Babette Quinkert, Philipp Rauh und Ulrike Winkler in der Reihe „Beiträge zur Geschichte des Nationalsozialismus“ unter dem Titel „Krieg und Psychiatrie 1914-1950“ herausgegeben haben. Schon Sigmund Freud beschrieb das Verhältnis zwischen der Militärpsychiatrie und ihren Patienten im Ersten Weltkrieg mit einem kriegerischen Vergleich: Den Ärzten sei – so Freud – „etwas wie die Rolle von Maschinengewehren hinter der Front zugefallen, die Rolle, die Flüchtigen zurückzutreiben“. Wie diese „Maschinengewehre“ funktionierten, wie also psychiatrisches Wissen während der zwei Weltkriege zumal in Deutschland eher Effekt von politischen und militärischen und weniger von medizinischen Impulsen war, zeigt der neu erschienene Sammelband auf vielfältige Art und Weise.
Mehrere Artikel legen den Fokus auf den psychiatrischen Umgang mit sogenannten Kriegszitterern. Diese unheimliche Erkrankung trat im Ersten Weltkrieg massenhaft auf und es kam zu heftigen Debatten über Ursache und Behandelbarkeit der Symptome. Die Meinung, dass die spastischen Körperzuckungen der Kriegszitterer physische Ursachen hätten (berühmtester Vertreter dieser Ansicht war der Neurologe Hermann Oppenheim), konnte sich im Verlaufe des Kriegs immer weniger durchsetzen. Je schlechter es für Deutschland an der Front aussah, desto vehementer wurde hinter der Front der Verdacht geäußert, dass Kriegszitterer und Soldaten, die unter anderen psychischen Beschwerden litten, schlicht simulierten, um der Front zu entfliehen. So war die Quintessenz der offiziellen Devisen in Deutschland ab 1916, man müsse die Kriegszitterer zur Therapie mit Schreckerlebnissen konfrontieren, welche die Kriegsschrecken übertreffen. Dies solle zum Abklingen der Symptome führen und die Soldaten schnell wieder kampffähig machen. Diese Meinung etablierte sich in Deutschland während des Ersten Weltkriegs und bildete die Grundlage für den Umgang mit psychisch erkrankten Soldaten im Zweiten Weltkrieg, was vorstellbar macht, wie rabiat damalige Behandlungsmethoden ausfielen.
Interessant ist an der thematischen Gestaltung des vorliegenden Sammelbandes, dass auch die Ermordung von psychisch Kranken in von Deutschland besetzten Gebieten und die Euthanasie als Ausprägungen von Krieg und Psychiatrie betrachtet werden: Das Nebeneinanderstellen von Beiträgen zur oftmals brutalen Behandlung kriegstraumatisierter Soldaten einerseits und zur Ermordung von psychisch Kranken andererseits, impliziert, dass in Kriegszeiten, in denen hochwertiges und psychisch unendlich belastbares „Menschenmaterial“ gefordert war, die Psychiatrie sowohl an als auch hinter der Front geradezu vom Krieg und seiner selektionierenden Brutalität „angesteckt“ wurde. Vor allem der Beitrag von Ulrike Winkler und Gerrit Hohendorf „‚Nun ist Mogiljow frei von Verrückten‘“ macht dies deutlich. Die Ermordung der PsychiatriepatientInnen in Mogilew (1941/42) zeigt, wie nicht nur psychisch erkrankte Soldaten, sondern auch zivile PatientInnen in Kriegszeiten die „Maschinengewehre hinter der Front“ zu spüren bekamen.
Im Wesentlichen nichts Neues?
Was bereits mehrere Monografien zu Entstehung und Entwicklung der Kriegspsychiatrie in den zwei Weltkriegen insbesondere am Phänomen der Kriegsneurose erforschten, wird im Band „Krieg und Psychiatrie 1914-1950“ kaum durch neue Erkenntnisse zum psychiatrischen Wissen der Zeit ergänzt. Das liegt vor allem daran, dass der Schwerpunkt des Bandes alles andere als originell ist – fünf von acht Texten befassen sich mit Diagnostizierung und Behandlung von traumatisierten Soldaten. Daraus ergibt sich für den Sammelband ein thematischer Fokus, mit dem sich in den letzten Jahren nach dem Standardwerk zu Krieg und Psychiatrie von Peter Riedesser/Axel Verderber („Maschinengewehre hinter der Front“. Zur Geschichte der deutschen Militärpsychiatrie“, 1996) u.a. Monografien von Julia Barbara Köhne („Kriegshysteriker: Strategische Bilder und mediale Techniken militärpsychiatrischen Wissens [1914-1920]“, 2009) und Paul Lerner („Hysterical Men. War Psychiatry, and the Politics of Trauma in Germany, 1890-1930“, 2003) eingehend beschäftigten.
Dennoch ist die methodische Herangehensweise an die Thematik durchaus innovativ: Die bisherige Forschung stützte sich vornehmlich auf interne Verlautbarungen der beteiligten Psychiater sowie auf deren Publikationen. Somit sind die „großen Linien“ der Psychiatriegeschichte gerade im Umgang mit den Kriegsneurotikern bereits gut erforscht. Es fehlten bisher jedoch weitgehend Detailuntersuchungen dazu, wie das vorgeschriebene Wissen über diese psychische Störung im Einzelnen umgesetzt wurde. Hier liefern die Beiträge in „Krieg und Psychiatrie 1914-1950“ eine neue Perspektive, indem nebst dem entstehenden psychiatriemedizinischen Wissen die Krankengeschichten von Individuen eingehend betrachtet werden. Der Einbezug solcher Akten revidiert beziehungsweise relativiert Vorstellungen, die man durch Diskurse der einschlägigen zeitgenössischen Psychiatrie-Fachjournale erhält. Damit ist ein Schritt getan, das Forschungsdesiderat einer Patientengeschichte zu erfüllen. Die damit gewonnene neue Perspektive auf eine bekannte Thematik macht die Stärke des Bandes aus.
Ebenfalls lobenswert ist die gut recherchierte und prägnante Einleitung der Herausgeber Quinkert, Rauh und Winkler. Diese weist nicht nur auf die Aktualität der Thematik hin, sondern sie fasst unter Einbezug der relevanten Forschung zur Militärpsychiatrie in Deutschland auf wenigen Seiten die wesentlichen Entwicklungen im Verhältnis von Krieg und Psychiatrie von 1914-1950 zusammen. Somit bietet die Einführung nicht nur einen Ausblick auf die Beiträge, sondern verordnet diese gleich in die Entwicklung der deutschen Militärpsychiatrie. Diese gut durchdachte einleitende Einordnung und Abgrenzung der Beiträge steht jedoch in Kontrast zur mangelhaften Koordination der Inhalte: Ist schon die Argumentationsentwicklung in einigen Artikeln so ungeschickt, dass es zu wenig interessanten Wiederholungen kommt, so fällt dies umso mehr auf, als auch die einzelnen Beiträge sich stellenweise redundant zu anderen verhalten. Wer also den Band von vorne nach hinten durchliest, wird sich nach der Einleitung und den zwei folgenden Beiträgen zum Umgang mit traumatisierten Soldaten in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg freuen, wenn sich mit dem Beitrag von Hans Pols zur US-amerikanischen Militärpsychiatrie der Fokus zumindest nationalgeografisch endlich verschiebt.
Die Tatsache, dass im Sammelband „Krieg und Psychiatrie 1914-1950“ neben Studien zur Militärpsychiatrie in Deutschland solche zur selben Disziplin in der selben Zeit in den U.S.A. stehen, verdeutlicht, in welch enormem Ausmaß psychiatrische Praxis von den jeweiligen politischen Ideologien abhing. Pols’ Artikel „Die Militäroperation in Tunesien 1942/43 und die Neuorientierung der US-amerikanischen Militärpsychiatrie“ ist denn auch besonders interessant, weil bei ihm deutlich wird, dass die U.S.A. einen gänzlich anderen Umgang mit traumatisierten Kriegsheimkehrern pflegten als Deutschland. Dabei zeigt sich, wie erhellend eine bisher noch ausstehende systematisch vergleichende Untersuchung der international verschiedenen Ansätze im Umgang mit Kriegshysterikern sein könnte. Leider ist aber auch Pols’ Beitrag so schlecht auf den darauf folgenden von Gerald N. Grob („Der Zweite Weltkrieg und die US-amerikanische Psychiatrie“) abgestimmt, dass es zu wenig interessanter Redundanz kommt.
Abschließend lässt sich sagen, dass es sich unbedingt lohnt, die Einleitung und je einen Beitrag zur Behandlung der traumatisierten Soldaten in Deutschland und in den U.S.A. sowie die drei davon unabhängigen Studien zu lesen. Man erhält dabei einen differenzierten Einblick in eine kriegerische Praxis der Psychiatrie und wird sensibilisiert für Interferenzen zwischen Psychiatrie und Politik, was nicht zuletzt auch für gegenwärtige Ereignisse aufschlussreich ist.
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