Menschen hinter Glas

Nicol Ljubic erzählt in seinem Roman „Meeresstille“ von der Unmöglichkeit einer Liebe im Schatten der jüngsten europäischen Geschichte

Von Monika StranakovaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Monika Stranakova

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eigentlich könnte alles so einfach sein: Endlich hat Robert die Liebe seines Lebens gefunden, das Mädchen mit einem Palindrom als Namen. Ana ist Serbin aus dem bosnischen Visegrad, studiert in Berlin Germanistik und hat in kürzester Zeit erreicht, dass er, ein Historiker mit einer „einschläfernden Ausstrahlung“, das Wort Glück tagtäglich neu buchstabiert. Für seine Freunde sei er „wie eine Jacke, die man auf links trage“, also nicht mehr wiederzuerkennen. Er backt serbische Honigtorten und lässt sich aus der Bucht des kroatischen Lumbarda einen Stein als Symbol für eine gemeinsame Reise an den Ort glücklicher Kindheitssommer besorgen. Alles nur für Ana. Wahre Liebe kann bekanntlich Berge versetzen. Warum also nicht Steine.

Zehn Monate dauert dieser Traumzustand, der für Robert, den Sohn eines assimilierten kroatischen Gastarbeiters, ungewollt auch zu einer Zeit der Selbsterkenntnis wird. Während er tapfer die ihm unbekannten Speisen aus Anas Herkunftsregion isst und die Wörter einer Sprache lernt, die ihm in der Kindheit mit der Begründung vorenthalten wurde, ein leichtes Fortkommen gäbe es nur im Deutschen, denkt er über die eigenen Wurzeln nach. Schuld an seinem bisherigen Desinteresse ist sein Vater, zu dem er auch sonst kein gutes Verhältnis hat. Er ist zu laut, zu stark, zu dominant, sodass er sich immer öfter die Begegnung mit Anas Vater, dem Anglistikprofessor mit dem gutmütigen Blick, ausmalt. Und doch kommt alles anders, als er es angesichts ihrer liebevollen Erinnerungen vermutet: Denn Anas Vater ist der mutmaßliche Kriegsverbrecher Zlatko Simic, der in Den Haag der Mittäterschaft an der Ermordung von 42 Muslimen angeklagt ist.

Nicol Ljubic, 1971 in Zagreb geboren und in Griechenland, Schweden, Russland und Deutschland aufgewachsen, ist studierter Politikwissenschaftler, der in seinem zweiten Roman „Meeresstille“ die Folgen einer höchst traumatischen kollektiven Erfahrung auf den Einzelnen auslotet. Was bedeutet es, zu einem stigmatisierten Volk zu gehören und was heißt es, mit der Schuld der Eltern zu leben? Kann eine Beziehung, in der dem Partner grundsätzliche Wahrheiten verschwiegen wurden, langfristig aufrechterhalten werden? Und nicht zuletzt: Wie geht man im Ernstfall mit dem inneren Konflikt um, man könnte „aus Liebe sein eigenes moralisches Empfinden hintergehen“?

Lange blieben die Versuche, das Auseinanderbrechen Jugoslawiens und die Katastrophen des Bürgerkrieges zu verstehen, in der deutschsprachigen Literatur marginal. Auf die Stellungnahmen deutscher Schriftsteller und Intellektueller, die vor allem die europäische Gleichgültigkeit beklagten und auf die rasche Beendigung des Krieges drängten, folgten unmittelbar die Romane von Gerhard Roth „Der Berg“ (2000) und Norbert Gstrein „Das Handwerk des Tötens“ (2003). Während im ersten Roman der Konflikt die Kulisse für religiöse und existentielle Fragen abgibt, thematisiert Gstrein die Schwierigkeit des Sprechens vom Krieg. Erst aus dem wachsenden zeitlichen Abstand und durch die Darstellung einzelner Schicksale – denken wir hier an Sasa Stanisics „Wie der Soldat das Grammofon repariert“ (2006) oder Anna Kims „Die gefrorene Zeit“ (2008) – scheint eine differenzierte Auseinandersetzung möglich. Doch auch die jüngere Schriftstellergeneration kommt um die Frage des „Wie“ nicht herum.

Ljubic baut sichtbar auf Antagonismen. Sein Roman wechselt zunächst zwischen zwei Erzählebenen: Neben der schon erwähnten privaten wird auf einer mit journalistischen Mitteln arbeitenden zweiten Ebene über historische Fakten und den Prozess berichtet, dem Robert, um seiner Verwirrung Herr zu werden, beiwohnt. Die Zeugenaussagen, seine Wahrnehmung des Angeklagten und die Gespräche mit anderen Zuschauern, durch die er glaubt, der Wahrheit und einer eigenen Haltung näher zu kommen, sollen das Geschehen zwar aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchten, doch der Gegensatz zwischen roher Gewalt und zartem Gefühl wird auch in der Darstellung des sonst durchaus vielschichtig beschriebenen Vaters weitergeführt: So wird etwa beim Prozess behauptet, dass er eigentlich ein Schöngeist und ein lieber Mensch sei, der nicht einmal einem Tier etwas zuleide tun könnte. Ljubics ruhige, unaufgeregte Erzählweise dagegen, die er auch bei den Schilderungen der Reise nach Sarajevo und Visegrad und den dortigen Treffen mit Menschen, die den Krieg selbst erlebt haben, fast durchgehend beibehalten kann, tut dem Thema gut. Zu schade nur, dass sich diese Sachlichkeit trotz eindeutiger, zumeist durch neue Kapitel markierter Übergänge zwischen den Ebenen auch in die privaten Rückblenden und Liebesszenen einschleicht.

Trotz all dem ist „Meeresstille“ ein mutiges Buch, das fünfzehn Jahre nach dem Bürgerkrieg, wenn es um Bosnien still geworden ist und man höchstens über die Desillusionierung seiner Bürger berichtet, unsere Zuschauerrolle erneut in Frage stellt. Denn nicht nur die traurige Vergangenheit geht uns etwas an. Auch die Gegenwart und die Zukunft einer ganzen Generation junger Europäer hängt davon ab, ob wir uns mit dem Platz des Richters zufrieden geben oder an der Gestaltung eines anderen Südosteuropas teilhaben wollen.

Titelbild

Nicol Ljubic: Meeresstille.
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2010.
190 Seiten, 17,00 EUR.
ISBN-13: 9783455401165

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