Alles dreht sich um die Angst

Über Ricarda Junges Roman „Die komische Frau“

Von Peter MohrRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter Mohr

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Im Folgenden werde ich davon berichten, was sich zwischen dem dreizehnten April und dem zehnten Mai im Haus Löwenstraße Nummer eins in Berlin-Friedrichshain Sonderbares ereignet hat“, erklärt Protagonistin Lena zu Beginn von Ricarda Junges’ drittem Roman „Die komische Frau“. Die 31-jährige Autorin, Absolventin des Leipziger Literaturinstituts, hat das Leben ihrer Hauptfigur vollends aus den Fugen geraten lassen.

Die junge, aus Hamburg stammende Lena hat gerade ihren ersten Roman veröffentlicht, schreibt überdies Kolumnen für eine Tageszeitung und lebt zunächst mit ihrem Freund Leander und dem gemeinsamen Sohn Adrian in Berlin. Dann geht alles ganz schnell mit den Veränderungen: Leander, der linke Träumer, verliert seinen Job bei einem Magazin, das Paar trennt sich, und Lena bleibt mit dem Sohn allein zurück in der einstigen SED-Prachtwohnung in einer Nebenstraße der Karl-Marx-Allee. Die Majorität ihrer Nachbarn befindet sich im Rentenalter und besteht aus Personen, die an das System der ehemaligen DDR glaubten und es zumeist aus Überzeugung mitgetragen haben – wie ein gewisser Kaltental, der eigentlich anders heißt, aber seine Identität seit dem Mauerfall verschleiern muss. „Ich finde es widerlich, dass du hier wohnst“, schimpft Lenas Mutter über das historisch belastete Wohnumfeld ihrer Tochter.

Nach Leanders Auszug häufen sich seltsame Erscheinungen in der Wohnung: die Kaffeemaschine macht sich selbständig, Schlüssel stecken plötzlich auf der falschen Seite im Schloss, Heizungen und Herdplatten werden von Geisterhand aufgedreht, auf dem Boden sind seltsame Flecken zu sehen und irgendwann steht gar eine brennende Kerze auf dem Tisch.

Der kleine Adrian spricht häufig von einer „komischen Frau“ in der Wohnung. Meint er eine Fremde, die sich dort tummelt, oder seine eigene Mutter, die sich zusehends verändert und die psychische Balance zu verlieren droht? Um die beiden herum existiert zudem ein diffuses atmosphärisches Gebräu aus Abneigungen, Verdächtigungen und Verleumdungen – ein latenter Ost-West-Konflikt, heruntergebrochen auf die Ebene von Nachbarschaftsstreitereien. „Ich hatte keine Angst, aber ich konnte sie sehen, abtasten, alles drehte sich auf einmal um dieses Wort“, bekundet die ratlose Lena.

Ricarda Junge hat eine verstörende Geschichte konstruiert, die zwischen Wahn und Sinn pendelt. Gehören die Neurosen zum Alltag? Wo liegen die Wurzeln der unbeschreiblichen Ängste? In der unaufgearbeiteten Vergangenheit einiger Hausbewohner? Oder sind es Lenas handfeste Zukunftsängste angesichts schwindender Aufträge?

Junges Roman zeugt von einer subtilen Beobachtungsgabe. Sie hat den Alltag haarklein seziert und den beinahe zu Automatismen gewordenen Handgriffen des täglichen Lebens ein gewisses Bedrohungspotenzial einverleibt. Die Ängste sind tatsächlich allgegenwärtig. „Die komische Frau“ liest sich (keineswegs unbeabsichtigt) einerseits bedrohlich und irritierend, andererseits – durch gekonnt platzierte Anleihen aus Spuk- und Thrillergeschichten – aber auch höchst spannend. Eine nicht zu unterschätzende erzählerische Qualität von Junge.

Titelbild

Ricarda Junge: Die komische Frau. Roman.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2010.
192 Seiten, 17,95 EUR.
ISBN-13: 9783100393296

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