Fantastische Himmelfahrtstechniken
Die Berliner Kulturwissenschaftlerin Natascha Adamowsky widmet sich dem modernen Wunder des Fliegens
Von Franz Siepe
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDer heilige Joseph von Copertino ist Schutzpatron der Examenskandidaten, weil er alles andere als besonders helle im Kopf war und deshalb selbst unter schrecklichen Prüfungsängsten litt. Zum Schutzheiligen der Flieger, Kampfflieger, Astronauten und Hubschrauberpiloten wurde er, weil er sich – vor zahllosen prominenten und unverdächtigen Zeugen – meterhoch in die Luft erheben konnte. Ein spätbarockes Ölgemälde in der Grazer Grabenkirche gibt Zeugnis von seinen Levitationen, wurde jedoch im 19. Jahrhundert zweimal übermalt; denn die aufgeklärte Catholica wollte schon damals derlei Mirakel nicht länger propagieren.
Dem Wunder des Fliegens in diesem zwischen Zauber und Entzauberung changierenden Centennium gilt die Aufmerksamkeit der Berliner Kulturwissenschaftlerin Natascha Adamowsky, die mit dem vorliegenden Band zugleich ihre Habilitationsschrift publiziert.
Die Hauptthese besagt, dass es sich bei der Erfindung beziehungsweise Entdeckung des menschlichen Fliegenkönnens, also bei der technisch hergestellten Überwindung der anscheinend unüberwindbar hinabziehenden Schwerkraft, nicht lediglich um ein Derivat der instrumentell-technischen Vernunft handelt, sondern dass die Inwerksetzung unseres Vertikalstrebens mittels Ballonen, Flugschiffen und Flugzeugen von Anfang bis Ende sehr wesentlich von einer ästhetischen, der kalkulierenden Ratio inkommensurablen Qualität begleitet war: eben von der Erfahrung des Mirakulösen, des Wunderbaren.
Gemeinhin versteht man unter einem Wunder ein unerklärliches, staunenerregendes Phänomen, dessen Existenz man in göttlichem Wirken gegründet sieht. Weil Adamowsky aber genuin religiös sich kundtuende Wunderdinge programmatisch beiseite lassen möchte („Das Interesse gilt Artefakten und Ereignissen, die jenseits der christlichen Mirakelkultur ‚Wunder‘ genannt werden.“), stellt sich um so dringlicher die Frage nach dem zugrunde liegenden Wunderbegriff, sofern denn ein Wunder nicht ein bloß profanes Faszinosum sein soll.
Man wird der definitorischen Schwierigkeiten mit dem entsakralisiert-diesseitigen, zugleich aber unfassbar-transrationalen Wunder inne, wenn zu lesen ist: „‚Wunder‘ ist in dieser Arbeit daher eine Kategorie, mit der bestimmte Wahrnehmungen und Erfahrungen kulturell eingeordnet und diskursive Positionen bestimmt werden. Das ‚Wunderbare‘ hingegen wird als eine medienbasierte Produktivität verstanden, die einer Verwunderung Ausdruck verleihen, sie weiterreichen oder hervorrufen soll.“
In der bemühten Rhetorik solcher Passagen wirkt wohl auch noch die Last des Habilitationsverfahrens nach. Ähnlich angestrengt schleppt sich die folgende Erläuterung des methodologischen Programms herbei: „Die Aufarbeitung des Quellenmaterials hat […] zum Ziel, die im Luftfahrtmythos enthistorisierte, vernatürlichte, verunschuldigte, entkomplexisierte, lineare Erzählung eines ‚Traums vom Fliegen‘ und dessen Kopplung an die Luftfahrt als einem säkularisierenden, Vernunft bringenden technischen Projekt mit einem Kaleidoskop variierender, alternierender, zufälliger wie gegensätzlicher Ereignisse und Begebenheiten zu unterbrechen.“
Doch nur keine Angst: Wenn Natascha Adamowsky dann wirklich in medias res geht, öffnet sich ihr Buch einer beschwingten, lehrreichen und erfreuenden Lektüre, zumal die vielen schönen und wohlgefundenen Illustrationen den Rezipientendurst auf Augen- und Geisteslust stillen. Spätestens im Verlauf des dritten Kapitels („Himmlische Flugspiele – Zur Vorgeschichte des Fliegens zwischen ästhetischer Illusion und ‚wunderbarer Technik‘“) fühlt man sich zunehmend wie vom Ballast diskurskritischen Ab- und Erwägenmüssens befreit und folgt der Autorin offenen Mundes mit leuchtenden Augen bei ihrer Führung zu den fantastischen Monumenten der vertikal ausgerichteten menschlichen Selbstüberschreitungsfähigkeit.
Die Flug-Schau kulminiert im 19. Jahrhundert mit den Eckdaten 1783 (Erstaufstieg der Montgolfière), 1896 (tötlicher Absturz Otto Lilienthals) und 1903 (erster Motorflug der Gebrüder Wright). Jedoch hatte die „Euphorie für das Antigrave“ schon – oder erst? – mit Beginn der Frühen Neuzeit eingesetzt, sodass es auch renaissance- und barockzeitliche Aufstiegsmirabilien in Fülle zu bestaunen gibt: Seiltänzer, eine geflügelte Trapezkünstlerin, Feuerwerksraketen, Flugdrachen, künstliche Vögel, celestische Theaterillusionen, mit Schwebefiguren freskierte Gewölbe, fantastische Luft-Schiffe et cetera. All diese elevatorisch-levitatorischen Künste bewegen sich in einem „Imaginationsraum, in dem sich die Diskurse von Wunder und Vernunft auf produktive Art und Weise wechselseitig durchdringen“.
Wesentliches Moment sämtlicher Geistes- und Körperbemühungen um die Überwindung der Schwerkraft ist das „Spielerische, Vergnügliche“. Die Gebrüder Montgolfier waren weniger strategisch kühl kalkulierende Köpfe als vielmehr kreative Enthusiasten; und Ballone faszinierten eher als ästhetische denn als rein zweckdienliche Objekte: „Ballonaufstiege sind ein neues sinnliches Ereignis, Himmelfahrten, allein um der Schönheit willen. Der Anblick der dahinschwebenden Luftbälle hatte etwas Beglückendes wie Wehmütiges zugleich an sich, eine Heiterkeit […], die uns sonst unbekannt ist.“
Ebenfalls an der Figur des Pioniers Otto Lilienthal kann Adamowsky ihre These veranschaulichen, derzufolge den modernen Himmelfahrtstechniken immer ein konstitutives Element des Artistischen, nicht Berechenbaren inhärent war. Dem staunenden Bewunderer des Vogelflugs war das „Fluggefühl“, die „Gewandtheit des Körpers“, mindestens ebenso wichtig wie das physikalisch-technische Know-how. Das berühmte Foto „Lilienthal in den Rhinower Bergen“ von Alex Krajewski kommentiert die Autorin wie folgt: „Noch heute erschließt sich diese Photographie als ein poetischer Riss in der Welt. Sie zeigt das radikal Unwahrscheinliche: einen fliegenden Mann in der Mitte des Firmaments und darunter die Welt, in verschwommener Dunkelheit. Der Mann hängt in einem einzigartigen Gefährt von perfekter Harmonie und Schönheit, einen eleganten Sommerhut auf dem Kopf; es ist eine genuin moderne Inszenierung des Wunderbaren – die Zukunft liegt offen, alles scheint möglich. Wenn überhaupt jemals, erweist sich in diesem Moment der Traum vom Fliegen als schlafende Sehnsucht, das Fliegen als ein Zwilling des Träumens und das Flugzeug als ein ästhetischer Akt der Phantasie.“
Schon wegen dieser herrlichen Passage allein hat Adamowskys „Das Wunder in der Moderne“ in jeder Bibliothek mit einer Abteilung für Aviatisches und/oder Wunderbares seinen Platz zu finden. Man muss nicht jeder Ansicht und jedem Urteil der Verfasserin folgen können, um großen Gefallen an ihrer „anderen Kulturgeschichte des Fliegens“ zu finden.
Natascha Adamowsky: Das Wunder in der Moderne. Eine andere Kulturgeschichte des Fliegens.
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