Roald Amundsen – Legende, Hochstapler, Heimatloser

Die Amundsen-Biografie Tor Bomann-Larsens bringt den Menschen hinter dem Mythos zum Vorschein

Von Dorothée LeidigRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dorothée Leidig

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

14. Dezember 1911: Der Wettlauf ist entschieden, Roald Amundsen und seine vier Begleiter erreichen als erste Menschen den Südpol. Vor dem Rückmarsch lässt Amundsen neben der norwegischen Flagge auch ein Zelt zurück und in dem Zelt einen Brief an König Haakon. Erst einen Monat später trifft Amundsens Konkurrent Robert Falcon Scott am Pol ein. Scott versteht, dass Amundsen ihn als Überbringer des Briefes ausersehen hatte, er erweist sich als guter Verlierer und nimmt den Auftrag an. Als man fast ein Jahr später die Toten der britischen Expeditionsmannschaft findet, steckt Amundsens Brief sicher verwahrt in Scotts Schuh.

Die Geschichte der Expeditionen in die eisigen Regionen der Erde ist voller Heldenfiguren. Roald Amundsen (1872-1928) zählt zu den berühmtesten unter ihnen, er gilt als Bezwinger beider Pole und als Entdecker der Nordwestpassage. Seine wichtigsten Stationen sind: 1903-1906: Nordwestpassage, 1911: Südpol, 1914: Pläne, den Nordpol zu überfliegen, scheitern am Ausbruch des 1. Weltkriegs, 1918-20: Nordostpassage, 1925: erste Flugexpedition zum Nordpol, Bruchlandung und heldenhafte Rückkehr, 1926: Mitglied des ersten Teams, das den Nordpol überfliegt, in einem italienischen Luftschiff. Als das Luftschiff 1928 bei einer weiteren Arktisüberfliegung verschwindet, unternimmt Amundsen eine waghalsige Rettungsexpedition. Wochen später fischt ein Trawler einen Tank von Amundsens Flugzeug aus dem Eismeer, die Leichen der Besatzung jedoch werden nie gefunden. Der Mythos Amundsen, an dem der Polfahrer zeitlebens durch seine Expeditionsberichte und ausgedehnten Vortragsreisen selbst fleißig gearbeitet hat, ist perfekt.

Der wahre Kern von Mythen und Legenden tritt im Laufe der Zeit immer weiter zurück, doch wie die neueste Biografie Roald Amundsens zeigt, lüftet sich der Schleier der Verklärung auch gelegentlich wieder. Dank eines glücklichen Zufalls kam in den frühen 1990er-Jahren ein Metallkoffer ans Tageslicht, der Tausende von Seiten mit Geschäftsbriefen, Rechnungen und Korrespondenz enthielt: das Geschäftsarchiv Leon Amundsens. Der ältere Bruder war bis 1924 als Roalds Geschäftsführer ein unverzichtbarer Stützpfeiler der Expeditionen, er akquirierte immense Geldsummen für die Unternehmungen und sorgte für die logistische Basis. Zusammen mit den seit 1990 für die Öffentlichkeit freigegebenen privaten Tagebüchern Roald Amundsens diente dieses reichhaltige Quellenmaterial dem norwegischen Autor Tor Bomann-Larsen als Grundlage für seine Biografie des Polfahrers.

Bomann-Larsen richtet die Gliederung seine Biografie zwar an den Expeditionen aus, doch weist er den spektakulären Abenteuern die Rolle einer mitlaufenden Chronik zu und erlaubt ihnen niemals, die Geschichte zu dominieren. Der Autor zeichnet das Bild eines höchst widersprüchlichen Menschen, der einerseits mit einem atemberaubenden Selbstbewusstsein auftritt, der andererseits aber auch unendlich viel Anerkennung braucht und so schwach ist, dass er nicht die geringste Kritik an seiner Person zulassen kann. Und so ist er immer der Chef, eine andere Rolle erträgt er nicht. Von seiner Mannschaft verlangt er die unbedingte Unterordnung. Wer dagegen verstößt, wird umgehend verstoßen, mag er bis dahin auch der treueste Gefolgsmann gewesen sein. So geschieht es etwa Hjalmar Johansen, der schon Fridtjof Nansen ins Grönlandeis begleitet hatte und es wagt, „den Chef“ wegen einer eklatanten Pflichtverletzung zu kritisieren. Amundsen schließt ihn vom Marsch zum Südpol aus und beendet damit zugleich Johansens Laufbahn als Expeditionsteilnehmer. Ebenso kaltschnäuzig serviert Roald Amundsen später seinen Bruder Leon ab, ohne dessen Unterstützung weder die Südpolexpedition noch irgendeine andere Unternehmung bis 1924 zustande gekommen wäre.

Die andere Seite des Roald Amundsen ist ein Mensch, dem seine Männer absolut vertrauen können. Während viele andere Polarexpeditionen wegen schlechter Vorbereitung und zu hoher Risikobereitschaft für alle Beteiligten tödlich enden, sind bei Amundsens Fahrten nur sehr wenige Tote zu beklagen, so akribisch plant er seine Expeditionen, nie schickt er seine Mannschaft in unkalkulierbare Gefahren. Zwischen den Expeditionen bemüht er sich fürsorglich um Anstellungen für seine Gefolgsleute, und nie vergisst er, sein ehemaliges Kindermädchen finanziell zu unterstützen.

Amundsen ist auch der Mann, der der geliebten, aber unerreichbaren Frau alles zu Füßen legt: seine Ziele, seine Träume, seine Eroberungen, sein Vermögen (wenn er gerade welches hat). Doch wenn es ernst wird, wenn die jahrelang Angebetete endlich bereit ist, zu ihm zu kommen, ergreift er die Flucht. Er ist ein Fantast und Spieler, dem es immer wieder gelingt, andere so zu begeistern, dass sie große Summen in seine Unternehmungen stecken und ihn vor dem völligen wirtschaftlichen Ruin bewahren. Er ist süchtig nach Ruhm und versteht es nicht, warum ihm gerade nach der gescheiterten Überfliegung des Nordpols 1925 die meiste Sympathie zufällt. Er hatte zwar alle heil nach Hause gebracht, aber doch das Ziel verfehlt.

Bomann-Larsen demontiert den Mythos und stellt einen nicht unbedingt liebenswürdigen Menschen vor, ohne jedoch dessen Integrität zu beschädigen. Das gelingt ihm auch deshalb, weil er stets die politischen und gesellschaftlichen Bedingungen kritisch mitreflektiert, die den Nährboden für derartige Heldenkarrieren geschaffen haben. Abgesehen von einigen allzu detailliert beschriebenen Geldbeschaffungsmaßnahmen liest sich die gehaltvolle Biografie wie ein spannender Roman. Für die geschmeidige Übersetzung gebührt das Lob Karl-Ludwig Wetzig, dem es sogar gelungen ist, Amundsens absichtsvoll eigenwillige Orthografie in den Zitaten aus seinen Tagebüchern und Briefen anschaulich ins Deutsche zu übertragen.

Titelbild

Tor Bomann-Larsen: Amundsen. Bezwinger beider Pole.
Übersetzt aus dem Norwegischen von Karl-Ludwig Wetzig.
Mare Verlag, Hamburg 2010.
704 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-13: 9783866480681

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