Phantomschmerzen der Heimatlosen

Aris Fioretos erzählt in seinem Roman „Der letzte Grieche“ vom 20. Jahrhundert als dem „bleiernen Zeitalter der Migration“

Von Monika StranakovaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Monika Stranakova

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein in Berlin lebender schwedischer Schriftsteller griechisch-österreichischer Abstammung. Wie das schon klingt! Ein an der Schnittstelle unterschiedlicher sprachlicher und kultureller Einflussbereiche angesiedelter Roman. Was das nicht alles verspricht! Aris Fioretos’ Auswanderergeschichte „Der letzte Grieche“ über einen kosmopolitischen Provinzler (oder provinziellen Kosmopoliten) ist Familienporträt, Zeitgeschichte und bunte Anekdotenkavalkade zugleich. Zudem eine, die im Gegensatz zu vielen der aktuellen interkulturellen Familienromane im deutschen Sprachraum geschickt auf den Griff in die Klischee-Kiste verzichtet.

Im Mittelpunkt des Romans steht Jannis Georgiadis, ein keinesfalls heldenhafter, aber in seiner Verschrobenheit durchaus sympathischer Grieche. 1943 im makedonischen Bergdorf Áno Potámia geboren, verlebt der fantasiebegabte und mundfertige Bauernjunge eine mehr oder weniger glückliche Kindheit, sein „Mückenschädel“ voll ingeniöser Gedanken, wie man etwa die Wasserversorgung des Dorfes revolutionieren könnte. Für seine Großmutter baut er sogar ein Badehaus, das einzige im Dorf, das der alten Dame leider nicht nur Freude in den sonst so depressiven Alltag bringt, sondern auch eine Bleivergiftung verschafft. Als er in den 1960er-Jahren sein Hab und Gut beim Pokern verspielt, wandert er nach Skandinavien aus, wo sein Freund Kostas und dessen Schwester in einer schwedischen Fabrik für Sanitärartikel arbeiten.

Man sieht ihn in der chirurgischen Klinik in Kristianstad wieder, wo er mit einem Streichholz im Mund den ganzen Tag auf den einzigen griechischen Arzt des Ortes wartet. Er stellt sich ihm mit einem einnehmenden Lächeln und als „Student von der Universität Bromölla“ vor. An der vertrauten Anrede allein liegt es nicht, dass Doktor Florinos’ Beschützerinstinkte erwachen.

Es ist diese kühne Behauptung, die in seiner Familie, wie Fioretos in einem Interview verriet, seit dem Aufkreuzen eines Griechen 1966 bei seinem Vater in der Klinik als beinahe mythisch galt. Sie ist neben dem Wunsch, den heimatlos Gewordenen des 20. Jahrhunderts und den Gastarbeitern, die stumm und ohne Dank ihren besonderen Beitrag zum Aufbau des Wohlfahrtstaates leisteten, ein literarisches Denkmal zu setzen, privater Anlass des Buches gewesen. Dass Bromölla keine Universität besaß, muss man wohl nicht extra betonen.

Erzählt wird Jannis’ Lebensgeschichte aus der Perspektive seines Freundes Kostas, der sie auf hunderten von gelben Karteikarten in einer Holzkiste verwahrt. Sie sollte eine Ergänzung zur „Enzyklopädie der Auslandsgriechen“ bilden, an der nach einer Idee von Kostas’ Großmutter Eleni seit den 1920er-Jahren ein Dutzend aus Smyrna vertriebener Griechinnen auf fünf Kontinenten arbeiteten. Die „Gehilfinnen Clios“, wie sie sich nannten, haben in ihr in jahrelanger dokumentarischer Kleinstarbeit – denn „[d]ie Dichtkunst ist für die Griechen seit jeher Gift gewesen“ – die Erinnerungen an jene Landsleute erhalten, die ihre Heimat aus unterschiedlichsten Gründen verlassen mussten. Ereignisse der griechischen Geschichte – die Vertreibung der griechischen Bevölkerung durch Atatürks Truppen aus Smyrna 1922, der Völkertausch zwischen Griechenland und der Türkei 1923, der Zweite Weltkrieg, der Militärputsch 1967 und die Gastarbeiterwelle in den 1960er-Jahren nach Schweden – werden auf diese Weise zu Eckdaten einer griechischen Migrationsgeschichte.

Zu den Kunstgriffen des Romans gehört auch ein „Herausgeber“, ein gewisser Aris Fioretos, dem nach Kostas’ Tod die Aufgabe zufällt, die Biografie „des letzten Griechen“ zu veröffentlichen. Der einzige Weg, seinem besonderen Schicksal gerecht zu werden, ist, und dies ist ihm schnell klar, sich nicht nur auf die Fakten zu beschränken. Dass Menschen aus anderen Menschen bestehen, davon war Jannis überzeugt, und auch Kostas hat, so scheint es, diese Sichtweise von ihm übernommen. Das abschweifende, fragmentierte Erzählen, das nicht nur alles mit allem vernetzt, sondern auch auf aus den Depots der Geschichte ausgegrabene Erinnerungen und Erfahrungen mehrerer Generationen zurückgreift, sie in alle mögliche Richtungen verfolgt, variiert, manche sogar erfindet, überrascht, unter anderem auch deswegen, weil der Text trotz 400 Seiten Wucherns funktioniert und man an keiner Stelle auf die Idee kommt, er müsste gestutzt werden.

Es lebt sich wie im Paradies im Haus Florinos am See, denn Jannis’ Neugier auf die Welt in all ihrer Schönheit und Verrücktheit wirkt auf alle – einschließlich des Kindermädchens, das er später heiratet – äußerst anziehend. Obwohl er ausreichend Schwedisch lernt, in der Saftfabrik ordentlich anpackt und mit seinem Charme auch seine Schwiegereltern von der Wahl ihrer Tochter überzeugt, richtig heimisch wird er in Schweden nie. In seinem Kellerzimmer ist er durch den Äther stets mit seinem Heimatland verbunden. Zum Schluss wird auch klar, was sein Biograf Kostas mit seinem gescheiterten Leben, das auf dem Weg nach Hause auf der jugoslawischen Autobahn endet, zu tun hat. Plötzlich versteht man sein Anliegen, seinen Freund in einem besseren Licht zu zeichnen.

Aris Fioretos’ „Der letzte Grieche“ ist ein handwerklich äußerst raffinierter, melancholischer Roman über jene „Phantomschmerzen“, die der Mensch über die verlassene Heimat und Familie, sowie die verlorenen Freunde spürt. Die Griechen mit ihrem Lebensgefühl, „Ein Fremder daheim, ein Fremder fernab, / Ein Fremder noch hier im Paradies“, stehen für die Schicksale, wie sie das komplizierte 20. Jahrhundert unzählige Male schrieb. Das goldene Zeitalter der Migrationen, wie man es auch noch heutzutage zu nennen pflegt, war es nach seinem gewissenhaften Chronisten Fioretos wohl nicht.

Titelbild

Aris Fioretos: Der letzte Grieche.
Übersetzt aus dem Schwedischen von Paul Berf.
Carl Hanser Verlag, München 2011.
416 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783446236332

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch