Aus dem Leben eines Taugenichts

Über Roberto Alajmos neuen Roman „Es war der Sohn“

Von Bernhard WalcherRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernhard Walcher

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein Mord geschieht in trauter Runde einer sizilianischen Großfamilie, mit Eltern, Sohn, Großeltern und anderen Verwandten. Der Sohn des Ermordeten, der 20-jährige Herumlungerer und Taugenichts Tancredi Ciraulo, war auch in der Wohnung, wird von der eigenen Großmutter beschuldigt, von der Polizei verhört und kommt schließlich in Haft. Der Leser erfährt etwas über die Familiengeschichte, über tiefsitzende soziale Minderwertigkeitsgefühle und hochfliegende Träume vom finanziellen Wohlstand – und am Ende war es natürlich doch nicht der Sohn. Also auch kein Vatermord. Der Titel des im italienischen Original schon 2005 erschienenen Romans soll den Leser bewusst in die Irre führen. Die stark personalisierte Erzählweise vor allem der ersten Kapitel, die in präsentischer Form aus der Perspektive Tancredis erzählt werden, verstärken die Verunsicherung des Lesers, der über weite Strecken des Romans nicht so recht weiß, was eigentlich passiert ist – auch wenn man freilich früh ahnt, dass die von der Familie bekräftige Version der Tathergänge etwas verschweigt. Die Fragen, um die der Roman eigentlich kreist, scheinen einfach und dem Muster einer Kriminalgeschichte zu folgen: Warum opfert sich einer für die Familie, aus dessen Innenperspektive wir nicht einmal einen Widerspruch zu dem ihm vorgeworfenen Mord vernehmen, und warum möchten die eigene Mutter und die eigenen Großeltern ihren Sprössling als Mörder sehen? Die klassischste aller Krimifragen, die nach den Motiven der handelnden Personen, führt zum eigentlichen Gegenstand des Textes. Denn nichts anderes ist der Roman als eine erschütternde Milieustudie aus Palermos Kalsa-Viertel, das der Autor offenbar sehr gut kennt. Anders als in seinem romanhaften Reiseführer „Palermo sehen und sterben“ (deutsch 2007) führt der selbst aus der Hauptstadt Siziliens stammende und immer noch dort lebende Roberto Alajmo dem Leser Lebensweisen und -verhältnisse vor, von denen man so gar nicht wehmütig werden mag. Keine pittoreske Hinterhofszenerie mit Wäscheleinen und bröckelndem Putz, keine arm aber heiter den Geschäften des Tages nachgehenden Ragazzi. Nicht einmal eine ausgewachsene Familientragödie will und kann dieser Mord werden, da die Familie selbst nur noch als äußere Fassade übriggeblieben ist, als deren Sinnbild der Sinn der Mutter für eine saubere Wohnung inmitten eines trostlosen Wohnblocks steht. In Alajmos Roman ist die Familie schon längst nicht mehr ein Hort von Geborgenheit und Sicherheit, sondern, im Gegenteil, die staatlich geschützte Institution, in der Perspektivlosigkeit und Aggressionen kultiviert und an die nächste Generation weitergegeben werden.

Dem Leser wird eine Familiengeschichte der anderen Art zugemutet. Mit Figuren, die einen weder anrühren noch kalt lassen, die ungeheuer eindimensional scheinen und doch in ihrer instinktgesteuerten Handlungsweise unser Interesse wecken und deren Beschreibung zugegebenermaßen bei der Lektüre nicht selten Verärgerung hervorruft. Scheinen sie doch allzu flach und plan dargestellt, was nicht zuletzt der an vielen Stellen blass und unbeholfen wirkenden Übersetzung geschuldet scheint. Seltsam ist, dass man das Buch dennoch nicht aus der Hand legt. Vermutlich liegt das an Alajmos Kunst des Andeutens. Neben den aus der Perspektive Tancredis geschilderten Kapiteln, wird in Rückblenden von einem auktorialen Erzähler die Vorgeschichte der Familie berichtet, aus der sich zwar keine Apologie der moralischen Verkommenheit dieser Familie herleiten lässt, die aber deutlich macht, wie Gier und Rücksichtslosigkeit wiederum Gier und Rücksichtslosigkeit hervorbringen und sich zu einem ehernen Gesetz zu zementieren scheinen. Die Sehnsucht und der nachvollziehbare Wunsch, die eigene soziale Schicht verlassen zu können, sich selbst und seinen Kindern ein besseres Leben zu ermöglichen, enden hier in der Katastrophe. Denn der eigentliche Auslöser für die Gewalttat ist ein Kratzer im Lack eines neuen Volvo, den sich der ermordete Vater mit dem Geld aus einem staatlichen Entschädigungsfond für Mafia-Opfer geleistet hat. Die Tochter der Ciraulo, Serenella, war gewissermaßen als Kollateralschaden in einem Bandenkrieg getötet worden. Wie hier ein Menschenleben mit Geld und Autos aufgewogen und eine Familie gezeigt und entlarvt wird, deren hauptsächliches Anliegen nach dem Tod der Tochter ist, so schnell wie möglich daraus Kapital zu schlagen, wirkt skurril und überzeichnet. Doch passt dies nur allzu gut zur inneren Logik der Personen und ihrer Denkweise. In dem teuren Wagen als Ersatz und Wiedergutmachung für die tote Tochter offenbart sich nicht nur das fragwürdige Wertegerüst einer Familie. Er steht vielmehr als Bild für das gesamte, von Alajmo beschriebene Milieu der Verlorenen und Benachteiligten, für ihre unverschuldete Schuld, für die Mechanismen von Auf- und Ausbruch und Scheitern: „Tatsächlich handelte es sich um einen ziemlich tiefen und ausgeprägten Kratzer. Tancredi erinnert sich gut daran, er wird sich sein Leben lang daran erinnern. Wegen dieses Kratzers ist alles passiert. Und im Lichte dessen, was passiert ist, erscheint ihm das Auto etwas weniger glänzend als sonst. Als hätte der allgemeine Niedergang des Viertels begonnen, auf die schöne Ausnahme des Volvos überzugreifen. So ist das immer mit Autos. Man bewahrt ihre Makellosigkeit so lange wie möglich, man pflegt den Motor und die Karosserie, doch dann genügt ein kleiner Kratzer, und von da an stürzt alles unweigerlich auf das Verderben zu.“

Titelbild

Roberto Alajmo: Es war der Sohn. Roman.
Übersetzt aus dem Italienischen von Annette Kopetzki.
Carl Hanser Verlag, München 2011.
252 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783446236271

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