Was hat Dich bloß so ruiniert?

Jochen Rausch schreibt in „Trieb“ starke Geschichten

Von Martin GaiserRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Gaiser

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Möglicherweise gibt es so etwas wie eine Renaissance der Erzählung. Warum? Nun, da sind zum Einen die großen Verlage mit ihren auch für Erzählungen berühmten und zu recht gerühmten Autoren, wie zum Beispiel Bernhard Schlink oder Peter Stamm, ebenso der in Leipzig ausgezeichnete Clemens J. Setz mit seinen Erzählungen „Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes“. Andererseits gibt es auf dem Independentsektor mit den Verlagen Literatur-Quickie und Hablizel zwei Akteure, die kurze Texte deutscher Autorinnen und Autoren im auffälligen, an PIXI-Büchlein erinnernden Format veröffentlichen und damit den Autoren eine weitere Publikationsform bieten (so wie es früher im Kino ja häufig den Kurzfilm gab, der Künstlern ebenfalls ein zusätzliches Forum bot).

Den Lesern bieten diese mutigen Kleinverlage eine billige und – falls Vertrieb und Buchhandel mitspielen – leicht zugängliche Alternative zum dicken und teuren Roman an. Ferdinand von Schirach hat mit seinen verblüffenden Büchern „Schuld“ und „Verbrechen“ die kurze Form in den Bereich „True Crime“ transportiert, ein Genre, das aktuell auch noch durch den sehr auffälligen Roman „Der Tod der Kitty Genovese“ von Didier Decoin bedient wird. Hier nun passt „Trieb“ geradezu perfekt hinein, ein Band mit 13 Storys des Autors, Musikers und Journalisten Jochen Rausch.

Der Titel ist die inhaltliche und thematische Klammer all der realen Geschichten, die Rausch, dessen journalistischer Schwerpunkt lange Zeit die Gerichtsreportage war, auf etwas mehr als 200 Seiten versammelt hat. Diese auf das Wesentliche verknappten Geschichten, bei denen man keinen ei´nzigen Satz herausstreichen kann, haben allesamt einen nachprüfbaren Kern, dem der Autor fiktive Elemente zugesellt. Als Journalist kann man Menschen nicht in die Köpfe schauen, als Literat jedoch sehr wohl. „Wie gesagt, alles in allem eine banale und sinnlose Geschichte.“ So endet die Story „Nachbarn (Martha & Jürgen)“. Den Aspekt des Banalen findet man in vielen dieser Texte. Es handelt sich nicht um die großen und spektakulären Verbrechen, die man auf allen TV- und Radiokanälen sieht und die unsere Aufmerksamkeit auf bunt wackelnden Webseiten zwischen billigen Krankenversicherungen und großen Brüsten für zwei Sekunden zu fesseln vermögen. Vielmehr sind es, wie man so sagt, Verbrechen aus Leidenschaft oder eben Triebtaten. In der bereits genannten Erzählung beispielsweise hat ein Mann, der tagein tagaus in der selben Kneipe saß und der von allen als zwar aufbrausend, trotzdem aber eher als ruhig und in sich gekehrt beschrieben wird, auf brutale Weise eine Rentnerin umgebracht, weil er von ihr ein bisschen Kleingeld erbeuten musste, mit dem er zwei „scharfe Bräute“ in seinem Stammlokal beeindrucken wollte.

Banal ist auch die Geschichte „Gleis 2 (Michail & Katharina)“, die von dem Russlanddeutschen Mika erzählt, dessen Mutter bei einem Arbeitsunfall ums Leben kam, der jetzt mit Vater und Onkel zusammenlebt, ein wenig jobbt, herumgestoßen wird und große naive Träume hat. Ein ganz anderer Traum könnte gerade jetzt wahr werden, als er ein Mädchen sieht, in das er sich sofort verliebt, die er „die Ägypterin“ nennt und der er zum Bahngleis folgt. Er überlegt, wie er sie ansprechen soll, wie er mit ihr in seiner Disco prahlt, wie er sie in seinem Zimmer langsam auszieht. Dann wagt er es und sie wischt ihn weg, wie „man eine lästige Fliege verjagt. Oder die stinkenden Bettler unten im Tunnel“. Als der ICE einfährt, liegt er am Boden, wird getreten und geschlagen, das Handy der „Ägypterin“ liegt neben ihm, „Mörder“ rufen sie und treten weiter. Jochen Rausch schreibt diesen Text atemlos, in kurzen und kürzesten Sätzen, ein literarischer Stakkatotanz, der zudem von einer enormen Spannung lebt, weil man lange Zeit nicht weiß, was geschehen wird. Da gibt es eine „Ägypterin“, die an einem belebten Bahnhof einen Koffer hat, die ein Handy hat. Wird sie den Koffer stehen lassen und mit dem Handy die todbringende Bombe zünden? Geschickt verschränkt der Autor die Ängste der Gesellschaft mit dem Sehnen des jungen Mannes, seinen Wahn- und Wunschvorstellungen.

Vorstellungen dieser Art hat auch Claudia, die es satt hat, die Gespielin eines wohlhabenden Geschäftsmannes zu sein – auch das banal. Sie holt den Testfahrer Giancarlo Faccetti ab, der aus Mailand nach Düsseldorf gekommen ist, um einen irrsinnig schnellen Sportwagen auszuprobieren. Er ist ein blendend aussehender Mann, ein Herzensbrecher par excellence. Auch Claudia erliegt diesem Mann, gibt sich wohlig ihren Fantasien hin. Nach getaner Arbeit sitzen sie in einem Café, dann fährt er mit ihr in dem Rennwagen in Richtung Flughafen, lächelnd, mit seiner Hand auf ihrer. Kühl und sachlich beschreibt Rausch, wie das Auto auf Fahrweise und Fahrbahn reagiert, wie der Fahrer mit dem Auto umgeht – und schließlich, wie die Unfallopfer zugerichtet sind.

Auf gerade einmal zehn Seiten beschreibt er ganze Leben und zerstört sie wieder. „Trieb“ ist eine beeindruckende Sammlung solcher Biografien, die, von wenigen Ausnahmen abgesehen, im landläufigen Sinn normal sind. Wie so oft weiß man eben nicht, was in Menschen, auch denen, die einem ganz nah und scheinbar vertraut sind, vorgeht, welche Gedanken, Ängste, Traumata sie haben, was sie plagt und umtreibt, welche Fantasien sie hegen. Jochen Rausch zeigt mit seinen 13 Storys, wie nahe Beherrschung und Ausbruch beieinander liegen können, wie schnell sicher wirkende Menschen aus der Bahn geraten, bestehende Gefüge wanken und stürzen können. Und er macht das mit äußerster Konsequenz, präzise, knapp, nüchtern, dabei jedoch einfallsreich, multiperspektivisch und sprachlich absolut sicher. Harte Kost.

Titelbild

Jochen Rausch: Trieb. 13 Storys.
Berlin Verlag, Berlin 2011.
207 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783827010254

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