Geste der doppelten Lesart

Ulrich Johannes Beil untersucht die „hybride Gattung“: „Poesie und Prosa im europäischen Roman von Heliodor bis Goethe“

Von Wolfram Malte FuesRSS-Newsfeed neuer Artikel von Wolfram Malte Fues

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein Hybridfahrzeug wird von zwei in Funktionsweise und Treibstoff ganz verschiedenen Motoren, zum Beispiel einem Benzin- und einem Elektromotor, abwechslungsweise betrieben. Die Gattung, die Ulrich Johannes Beil zum Gegenstand seiner Habilitationsschrift macht, treiben ebenfalls zwei ganz verschiedene Diskurs-Motoren: Poesie und Prosa.

„‚Prosimetrum‘ ist heute allgemein als Bezeichnung für Texte eingeführt, die sich durch einen mehrfachen Wechsel von Prosa und Vers auszeichnen“ und diesen Wechsel als „literarische Technik“ anwenden. Indes: „Literatur- und stiltheoretische Anschauungen […] führen dazu, dass sich“ das Prosimetrum „nur in Spätantike und Mittelalter frei von ästhetischen Vorbehalten in ernsten Werken hohen Anspruchs entfalten kann“. Zu ihnen zählen in der klassischen Antike die Menippeische Satire, in der Spätantike der Roman und die Lehrdichtung, das „philosophisch-didaktisch-allegorische Prosimetrum“, das sich zwischen dem 9. und dem Anfang des 15. Jahrhunderts am weitesten entfaltet, indem es auf die Hagiografie und die Historiografie übergreift. In Renaissance und Humanismus „kommt es in der Nachfolge von Boccaccios ‚Ameto‘ (1341/42) und der ‚Arcadia‘ (1502/04) des Sannazaro zur Ausbildung einer reichen Tradition prosimetrischer Schäferromane“. Mit dem dort erreichten Modell hat sich die Innovationskraft der Gattung bis in die Neuzeit erschöpft. „Dies gilt besonders für die Romane der deutschen Romantiker.“ Soweit Bernhard Pabst im „Historischen Wörterbuch der Rhetorik“.

Beil hat eine ganz andere Sicht auf das Prosimetrum. Sie zeigt sich bereits in der Textwahl: Heliodor, „Aithiopika“ (Mitte 4. Jahrhundert), Petronius, „Satyricon“ (1. Jahrhundert), Jacopo Sannazaro, „Arcadia“ (1502/04), Jorge de Montemayor, „Los Siete Libros de la Diana“ (1559), Sir Philip Sidney, „The Countess of Pembrokes Arcadia“ (1593), Miguel de Cervantes, „Don Quijote“ (1605/1615), Johann Wolfgang von Goethe, „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ (1794/1796). Keine Spur vom philosophisch-didaktisch-Allegorischen. Beil betrachtet das Prosimetrum offenbar nicht nur als eine literarische Technik der Text-Sorten-Konstellation, sondern als eigentümliche Gattung abendländischer Erzählliteratur, die, nach bedeutsamem Vorspiel in Antike und Spätantike, ihren paradigmatischen Schwerpunkt in Renaissance und Frühbarock hat und im typbildenden Roman der deutschen Klassik schließlich versucht, „das, was die Überlieferung […] geboten hatte, exemplarisch aufzuarbeiten und zu reflektieren“. Allerdings fehlt auch bei Beil der Roman der deutschen Romantik – mit einer, wie ich meine, Nachfrage heischenden Begründung. Davon später. Zunächst: Dieses anspruchsvolle Programm setzt, soll es Aussicht auf Erfüllung haben, zweierlei voraus: Erstens die Definition der Kategorie, gemäß der sein Material ihm Gegenstand wird, und zweitens diejenige der Methode, in der sich diese Gegenständlichkeit spezifiziert und konkretisiert.

Gegenstand der Untersuchung „ist die Funktion von Gedichten im europäischen Roman“. Die Prosa ist als Materie dieses Romans das Gegebene. Die Gedichte hingegen fungieren als das ihr Ein- und Entgegengesetzte, energetische Implantate, die ihre Gastkörper durch Reiz zur Reaktion treiben, zu Anziehung und Abstoßung, zu Anverwandlung und Abgrenzung. In der Beils Untersuchung leitenden Definition der hybriden Gattung haben deren konträre Momente nicht das gleiche Gewicht. Die Lyrik fordert die Prosa heraus, nicht umgekehrt. Der Lyriker Beil sieht dem Literaturwissenschaftler über die Schulter – nicht, um ihm die Feder zu führen, aber um ihm ins Ohr zu sagen, wie zu lesen sei. Es wird aufschlussreich sein, zu beobachten, wie dieses transzendentale Ungleichgewicht die Methode und die Resultate der Analyse beeinflusst. Deren Entwicklung beginnt, unter Berufung auf Michail Bachtin, mit einer scheinbar einfachen Frage: „Gibt es […] so etwas wie einen Dialog zwischen Prosa und Poesie?“ Die Geschichte des Prosimetrums schließt ein Nein aus. Sie sei, so Beil, an ihr selbst der „Beweis dafür […], dass die Prosa sich immer schon mit der Poesie im Gespräch befindet, ja dass sie gar nicht anfangen und sich konstituieren könnte, ohne sich auf die ihr vorausgehenden Versgattungen […] zu beziehen“.

Die gebundene Rede ist älter als die ungebundene, die zu sich kommt, indem sie sich aus deren Bindungen befreit. Wir sehen: Das Verhältnis kehrt sich um. Jetzt ist die Poesie das Gegebene, demgegenüber die Prosa sich nur als selbständig setzen kann, wenn sie es nicht als gegeben hinnimmt. Schließlich: „Immer von neuem kommt es zum Dialog zwischen den Gattungen, und zwar nicht nur dann, wenn ein Gedicht sich in eine Prosasituation einfügt und plangemäss ‚funktioniert‘, sondern auch und vor allem, wenn es über das von der Prosa Vorgegebene hinausgeht.“

Umkehrung der Umkehrung: Die Prosa, die sich im Gespräch mit der Poesie aus deren Bindungen löst, sich negativ auf sie bezieht, erfährt sich in diesem Bezug selbst als negativ gesetzt und damit von der Poesie zur Reflexion ihrer eigentümlichen Gebundenheit herausgefordert. Der Dialog, wie ihn Beil als Methode seiner Analyse gebraucht, ist eine Reflexionsform, in der das Bedingende und das Bedingte permanent und durch sie selbst unaufhebbar die Position wechseln, weil jedes, indem es sich bestimmt, schon in seine andere Bestimmtheit übergeht. Die Geschichte des Prosimetrums in der europäischen Erzählliteratur, zu der Beil in den folgenden Kapiteln exemplarisch den Grund legt, weist also zugleich auf eine paradigmatische Geschichte diskursiv literarischer Weltaneignung in der oben skizzierten Reflexionsform hin.

Resultat? Ein Schema: „Aithiopika“ – Partizipation. „Satyricon“ – Destruktion. „Schäferroman“ – Dezentrierung. „Don Quijote“ – Erschöpfung. „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ – Kontrastierung. Wir sehen: Die Geschichte des Prosimetrums, des dialogischen Spannungsverhältnisses zwischen Poesie und Prosa, inszeniert sich in Beils Analyse in einer klassischen Form der dritten Gattung – als fünfaktiges Drama und damit als Grundriss für eine grosse Erzählung, zu deren Autor sich alle machen können, die von der Kenntnisnahme des Schemas her mit der relecture seiner einzelnen Stationen beginnen mögen. Das ist dialogisch nur konsequent. Bestimmt man, wie es Beil von Bachtin ausgehend hier tut, Dialog als eine Form, die von sich her die negative Unmittelbarkeit der Reflexion nicht in ein vermittelndes Drittes überführen kann, bleibt nur übrig, ihr dieses dritte Vermittelnde, das die abstrakten Positionen der Reflexion erst zu einer sinnhaften Geschichte konkretisiert, als Form ihrer Form von außen her aufzuerlegen. Beil ist selber ein viel zu erfahrener und erprobter Literat, um nicht zu wissen, dass der Versuch, Diskurse zu ordnen, von der Ordnung des eigenen bedingt und entschieden wird. Er vergisst nie, dass auch die Textsorte der literaturwissenschaftlichen Untersuchung der Erzähl-Gattung angehört und ihre Differenz zu den literarischen Textsorten, auf die sie sich richtet, aus den Parallelen und Analogien, den Unterschieden und Widersprüchen, die sie mit ihnen verbinden, immer neu gewinnen und bestimmen muss.

Aufarbeitung und Vergegenwärtigung des Forschungsstandes; Behutsamkeit wie Eindringlichkeit der Interpretation; Präzision und Transparenz in der Erörterung der Resultate: Dass Beils Untersuchung in diesen Punkten allem literaturwissenschaftlichen Anspruch genügt, wird von deren erster Station an überzeugend deutlich. An ihrem Ende kommt Beil auf die paradigmatische Geschichte diskursiv literarischer Weltaneignung zurück, die sich aus seiner exemplarischen Geschichte des Prosimetrums begleitend, supponierend ergeben hat. Sobald man nämlich die in seiner Untersuchung methodisch entfaltete Dialogizität von Poesie und Prosa „auf ihr elementares Tun befragt, werden zwei fundamentale Praktiken erkennbar – grundverschiedene Umgangsweisen mit unserer literarischen und kulturellen Überlieferung […] Zum einen können wir diese Dokumente deuten, aus ihrem historischen, sozialen, kulturellen Zusammenhang erschließen, kontextualisieren, wir können sie zu verstehen suchen als Teil eines größeren semantischen Puzzles, einer umfassenden kulturellen ‚Energie‘. […] Zum anderen können wir […] die Dokumente aus ihrer Geschichtlichkeit herauslösen, dekontextualisieren […], wir können sie, im Wortsinn ‚häretisch‘, in die Gegenwart versetzen, wo sie sich als Zeichen, als Text im Moment der […] Lektüre ohnehin befinden; wir können sie lesen, als ob sie nie gelesen worden wären, sie in der Materialität ihres Hic-et-nunc ernst nehmen und uns […] von ihnen ansprechen, bewegen, zu eigener Kreativität anregen lassen.“

Der literarische Text (ver-)führt seine Leser aus ihrer Geschichte zu ihrer als seiner Gegenwart und führt aus ihr und durch sie wieder zu seiner Geschichte zurück. In ein und derselben dialogisch-semiologischen Geste. Damit verwandelt sich zugleich ein traditionell aporetisches ‚Entweder – oder‘ literaturwissenschaftlicher Methodik in ein produktives ‚sowohl – als auch‘.

Die einzige Schwachstelle in Beils historisch symbolischer Strukturanalyse des Prosimetrums bildet sein Umgang mit der Gattung in der Epoche der Romantik. „Gerade hier, wo man glauben könnte, diese exzentrischer Gattung sei endlich bei sich selber angekommen, mehren sich die Zeichen ihrer Agonie. So kann man zwar den Eindruck gewinnen, als bildeten die romantischen Romane das Eschaton jener Entwicklung, die mit Petronius und Heliodor ihren Ausgang nahm – das Eschaton, aber eben auch das (beredte, vielgestaltige, ausufernde) Ende.“ Gleich im nächsten Satz heißt es dann: „Die Epoche des Prosimetrums nach Goethe bedürfte angesichts ihrer Vielgestaltigkeit einer eigenständigen komparatistischen Darstellung.“ Um was darzustellen? Die Agonie?

Ich mache einen Vorschlag. „Die romantische Dichtart ist“ – wie bekannt – „noch im Werden; ja das ist ihr eigentliches Wesen, dass sie ewig nur werden, nie vollendet sein kann.“ (Friedrich Schlegel) Was immer nur im Werden ist, vollendet sich im Unendlichen, dem Inbegriff des Werdens. Insofern es aber Werden ist, an ihm sein Dasein hat, ist es in jedem seiner Momente ebenso sehr endlich wie darin zugleich unendlich, seiner Vollendung inne wie sie hinausschiebend. Mit anderen Worten: „Es ist gleich tödlich für den Geist, ein System zu haben und keins zu haben. Er wird sich also wohl entschließen müssen, beides zu verbinden.“ (Friedrich Schlegel) Ein Geist, der sich dazu entschließt, muss das Denken in Reflexions-Verhältnissen aufgeben und somit die Kategorie der Differenz für sich neu bestimmen. Differenz bedeutet für ihn nicht länger eine Grenze, die sich zwar überqueren und überwinden lässt, sich aber eben darin bewahrt und behauptet, sondern eine, die sich löscht, indem sie sich zieht, und sich wiederherstellt, indem sie sich löscht.

Diese Grenze entwirft durch ihre negativen Bestimmungen ein System, nimmt den Entwurf im Wurf aber wieder zurück, so die Negativität des Bestimmens negierend und in die reine Positivität des Ent-Wurfs aufhebend. Wendet man diese romantische Denkform auf die Dialogizität des Prosimetrums an, wie Beils Untersuchung sie vorführt, so folgt, dass, sobald Poesie und Prosa miteinander ins Gespräch kommen, die angesprochene Seite sich in dieses Gespräch so mischt, als spräche sie mit der Stimme der ansprechenden, während der Dialog beider erhalten bleibt. Könnte nicht eben das – zum Beispiel in der rhythmischen Prosa in Achim von Arnims „Gräfin Dolores“ – „das Eschaton jener Entwicklung“ darstellen, „die mit Petronius und Heliodor ihren Ausgang nahm“, weil damit „diese exzentrischer Gattung“ endlich in ihrem De-Zentrum ankommt? Könnte so betrachtet dieses Eschaton nicht ebenso sehr als Proteron von hierher seine supplementierende Spur durch die Geschichte des europäischen Romans ziehen, etwa durch Mollys Monolog am Schluss des „Ulysses“? Durch das IX. Buch von „Berlin Alexanderplatz“? Durch das Blütenstrom-Kapitel im „Mann ohne Eigenschaften“? Eine Spur, für die ich eben in Jack Kerouacs „Scattered Poems“ eine, wie mir scheint, wegleitende Formel finde: „One knows not“ (in Prosa) – „One desires“ (poetisch) – „Which is the sum“ (prosimetrisch). Wir sehen: Die Lektüre von Beils Buch fordert jene Geste der doppelten Lesart, die es vorführt, zu ihrer Weiterverfolgung heraus. Worin nicht sein kleinstes Verdienst liegt.

Titelbild

Ulrich Johannes Beil: Die hybride Gattung. Poesie und Prosa im europäischen Roman von Heliodor bis Goethe.
Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2010.
435 Seiten, 49,80 EUR.
ISBN-13: 9783826043000

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