„Die Wahrheit ist, daß mir auf Erden nicht zu helfen war“

Die Literaturgeschichte rund um Heinrich von Kleist verwandelt sich in ein Tollhaus

Von Peter HornRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter Horn

Was Gilles Deleuze über Gottfried Wilhelm Leibnitz sagt, dass er in seiner Metaphysik wahrhaft halluzinatorische Begriffe geschaffen hat, das trifft auch auf Kleist und seine Dramen und Erzählungen zu: es ist eine wahrhaft halluzinatorische Welt, in die wir da eintreten. Nicht nur die Metaphysik, auch die Dichtung hat oft sehr enge Beziehungen zum Delirium, zum Schrei, zu einer Gewalttätigkeit, die sich nur in der Repräsentation auf der geschriebenen Seite und der Darstellung auf der Bühne zeigt. Es geht nicht um Argumente, und mit Argumenten kann man gegen dieses Delirium nichts ausrichten.

Im Zusammenhang mit der Arbeit am „Guiskard“ hat Pfuel erzählt, „Kleist habe immer mit einer tief ergreifenden Aufregung gearbeitet, indem er sich mit seinem ganzen Fühlen und Denken in den Gegenstand, besonders aber in das Leben und in die Schicksale seines Helden oder seiner Heldin versenkte.“ Dass Kleist immer wieder in dieses Delirium eintaucht und verwirrt aus ihm auftaucht, macht ihn höchst verwundbar. Kleist ahnt, dass sein „Delirium“ „wahrscheinlich eine ganz physische Ursache hat“ – dass er recht hatte, wissen wir heute – und er empfindet „eine unerklärliche Verlegenheit, die unüberwindlich ist“, und von der er sagt: „Mit der grössten Mühe nur kann ich sie so verstecken, dass sie nicht auffällt“, dass er „von jedem äussern Eindrucke abhangt und das albernste Mädchen oder der elendste Schuft von Elegant uns durch die matteste Persiflage vernichten kann.“

Adolf Muschg versucht, Kleist vor dem populären Missverständnis des „Wahnsinns“ zu retten. Er weiß sehr wohl, dass wir nicht mehr im Griechenland Platons leben, wo der „Wahnsinn“ nicht nur „Ehrfurcht weckte und das Ansehen des Dichters steigerte“, sondern wesentlich zur Erscheinungsform des Dichters gehörte: „Die Ärzte haben es klinisch untersucht, mit dem Ergebnis, daß die Literaturgeschichte sich in ein Tollhaus verwandelte. Seitdem sie im Künstler den Krankheitsfall und im Kunstwerk die „Ersatzleistung“ eines minderwertigen Individuums erkannten, ist es für den wissenschaftlich aufgeklärten Banausen ausgemacht, daß sich bei jedem schöpferischen Geist der Defekt nachweisen lasse, der sein Schaffen erklärt, und die geisteskranken Dichter dienen dafür als Paradebeispiele. Das Leiden, besonders das seelische und geistige, galt dem Spießbürger zu allen Zeiten als verdächtig oder lächerlich.“ Die Psychologen, meint Muschg, seien eifrig bemüht, „die Menschheit von ihrer gefährlichsten Krankheit, der Phantasie, zu heilen“.

Auch die moderne Psychiatrie hat hier kaum ein Umdenken herbeigeführt. Cesare Lombrosos Buch über „Genie und Irrsinn“ [Genio e follia] und Gottfried Benns Aufsatz „Genie und Gesundheit“ zu diesem Thema sind Versuche mit der Problematik zurechtzukommen, dass die „Genies“ einerseits „pathologische“ Züge tragen, andererseits aber eben doch in ihrem Werk etwas schaffen, was die Gesellschaft als wertvoll begreift: „Es ist überhaupt nicht so, daß psychopathologische Züge an sich irgend etwas mit Genie zu tun hätten. Im Gegenteil, die Masse der Geisteskranken und Psychopathen sind Minusvarianten sowohl im Sinne ihrer Intelligenz wie ihres soziologischen Wertes. […] Genie entsteht im Erbgang besonders gern an dem Punkt, wo eine hochbegabte Familie zu entarten beginnt.“ – Und schließlich zusammenfassend: „Je mehr man Biographien studiert, desto mehr wird man zu der Vermutung gedrängt: dies immer wiederkehrende psychopathologische Teilelement im Genie ist nicht nur eine bedauerliche äußere Unvermeidlichkeit biologischen Geschehens, sondern ein unerläßlicher innerer Wesensbestandteil, ein unerläßliches Ferment vielleicht für jede Genialität im engsten Sinne des Worts.“

Oskar Panizza erinnert in seinem Aufsatz „Genie und Wahnsinn“ daran, dass die „eigentlich wissenschaftliche Verbindung von Genie und Geisteskrankheit […] erst ins [19.] Jahrhundert [fällt]“: „Moreau, der bekannte französische Irrenarzt, schrieb schon 1859 ein geistvolles Buch über diesen Gegenstand. Er definirte […] das Genie als eine Gehirn-Neurose, als „éréthisme nerveux“, der aber seinen Verlauf zum Wahnsinn oder Idiotismus nicht durchmacht, sondern stationär bleibt; also eine Art stehengebliebene Geisteskrankheit.“

Panizza schränkt allerdings ein: „Im Allgemeinen muß man nun sagen, daß der Satz: Genie ist Wahnsinn, einfach und ohne Einschränkung aufgestellt, unhaltbar ist, und zu Irrthümern verleitet.“

Dem gegenüber hat Michael Lamb, der englische Psychologe, behauptet, er könne sich bestimmte hochbegabte Männer, wie William Shakespeare und Johann Wolfgang Goethe, geisteskrank gar nicht vorstellen. Auch ist es bezeichnend, dass gerade hervorragende Irrenärzte, wie Friedrich Wilhelm Hagen, energisch sich gegen die Identifizirung beider Zustände gewehrt haben. Und es ist klar, dass ein Psychiater, wie Ernst Moritz Arndt, der als das Grundwesen aller Geisteskrankheit den Schwachsinn ansieht, niemals in die Gleichstellung dieses Hemmungs-Zustandes mit der höchsten geistigen Blüthe der Menschheit einwilligen wird. Auch liegt in dem obigen Satz: Genie ist Wahnsinn, zu nahe der Rückschluss: Wahnsinn ist Genie.

Eine endgültige Wahrheit muss auch die Literaturwissenschaft schuldig bleiben. Selbst wenn nicht so viele Dokumente aus Kleists Leben und Umkreis in den letzten 200 Jahren verlorengegangen wären, könnten wir eine eindeutige Diagnose von den Zeitgenossen nicht erwarten, und noch weniger eine Aufklärung darüber, was diese Diagnose eigentlich für ihn als Mensch und als Dichter bedeutete. Das Problem ist dann letztlich kein medizinisches oder psychiatrisches, sondern eines der Möglichkeit die innere Erfahrung eines anderen nachvollziehen zu können.

Eine Möglichkeit, mit dieser Realität umzugehen, mit dem, „was kein Name nennt“, oder besser, sie gerade zu verdrängen und zu vermeiden, ist sie in der Sprache so namenlos zu machen wie Penthesilea, „die fortan kein Name nennt“. Oder man kann den Akt entschuldigen als in „der Verwirrung ihrer jungen Sinne“ getan.

Die Lebenswelt des Menschen, der bipolar erkrankt ist, ist eine verwirrende, ständig gefährdete. Seine Wahrnehmungen sind durch die weiten Schwankungen von der Euphorie der Manie bis zu der schwärzesten Depression enorm beeinflusst. Kein Wunder, dass Kleist das Gleichnis von den „grünen Augen“ so überzeugend fand: „nie würden sie entscheiden können, ob ihr Auge ihnen, die Dinge zeigt, wie sie sind, oder ob es nicht etwas zu ihnen hinzutut, was nicht ihnen, sondern dem Auge gehört.“ Es ist diese von ihm selbst erfahrene Unsicherheit in der Wahrnehmung von allen äußeren Dingen und Menschen, die sich in seinem Werk immer wieder belegen lassen. Nichts ist sicher festzustellen, am wenigsten die Identität eines Menschen, Väter erschlagen ihre eigenen Kinder, weil sie sie nicht erkennen und „Wenn ihr euch totschlagt, ist es ein Versehen.“ Am drastischsten wird diese Unsicherheit der Identität im Amphitryon, wenn Alkmene unfähig ist, zwischen Amphitryon und Jupiter zu unterscheiden. Sosias ist „entsosiasitiert“, Amphitryon wird „entamphitryonisiert“, und am Schluss weiß keiner mehr sicher, wer er ist. Penthesilea ist überzeugt, dass man sie anlügt, denn sie kann sich einfach nicht vorstellen, dass sie den Achill mit ihren Hunden aufgefressen hat. Allerdings, Küsse kann man mit Bissen verwechseln, „das reimt sich“. Der Retter in der Marquise von O. stellt sich später als der Vergewaltiger heraus. Toni sagt sterbend zu Gustav: „du hättest mir nicht misstrauen sollen“, aber wie konnte er ihr in dieser Situation trauen. Wie kann man in dieser Verwirrung noch jemanden vertrauen, wenn es die Pflicht des Amtes ist, „was wahr ist zu verbergen“.

Kleist selbst war sich der Grenzen dessen wohl bewusst, was sich durch Sprache vermitteln lässt, und wo das Verstehen notwendig aufhören muss. Letztlich gilt auch für uns, was er seiner Stiefschwester Ulrike schrieb: „Das alles verstehst Du vielleicht nicht, liebe Ulrike, es ist wieder kein Gegenstand für die Mitteilung, und der andere müsste das alles aus sich selbst kennen, um es zu verstehen.“