Das Bedürfnis, zu atmen

Fabio Geda erzählt mit „Im Meer schwimmen Krokodile“ die Geschichte des Afghanen Enaiatollah Akbari, der als Kind seine Heimat verlässt, um sich allein bis nach Italien durchzuschlagen

Von Behrang SamsamiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Behrang Samsami

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Wie kann man so mir nichts, dir nichts sein Leben ändern, Enaiat? Sich an einem ganz normalen Vormittag von allem verabschieden? – Man tut es einfach, Fabio, und denkt nicht weiter darüber nach. Der Wunsch auszuwandern entspringt dem Bedürfnis, frei atmen zu können. Die Hoffnung auf ein besseres Leben ist stärker als alles andere. Meine Mutter zum Beispiel wusste, dass ich ohne sie in Gefahr bin. Aber dafür war ich unterwegs in eine andere Zukunft. Und das war besser, als in ihrem Beisein stets in Gefahr zu sein und ständig in Angst leben zu müssen.“

Dieser kurze Dialog zwischen Fabio Geda und Enaiatollah Akbari ist charakteristisch für zwei Sichtweisen, die in den wenigen Gesprächen zwischen beiden aufeinanderprallen und dabei den Erzählfluss dieser „wahren Geschichte“, so der Untertitel des Werks, unterbrechen. Das Staunen des 1972 in Turin geborenen Autors über die beinahe unglaubliche Fluchtgeschichte seines gut zwanzig Jahre jüngeren Gegenübers verdeutlicht den Standpunkt der Europäer, die meist wenig über die Umstände wissen, die Menschen veranlassen, ihr bisheriges Leben aufzugeben und sich in Europa eine neue Existenz aufzubauen. Enaiats Lebensweg erscheint paradigmatisch für solche „zerrissenen“ Biografien, die durch Krieg und Revolution, Emigration und Neubeginn geprägt sind.

Die sechs Kapitel, unterteilt nach den Ländern, in denen sich Enaiat aufhält, berichten über dessen noch junges, aber sehr ereignisreiches Schicksal. Das Buch beginnt mit seinem Leben in der Heimat, einem einfachen, harten Dasein mit Mutter und zwei Geschwistern. Die Familie gehört zum Stamm der Hazara – das sind Afghanen schiitischer Glaubensrichtung – und stammt aus Nawa, einem kleinen Ort südwestlich der Hauptstadt Kabul. Doch der nach dem Abzug der Sowjets 1989 währende Bürgerkrieg und die Herrschaft der Taliban machen einen Neuanfang für viele nur schwer möglich. Mit sechs Jahren verliert Enaiat seinen Vater – und das wohl durch einen Raubüberfall: Von sunnitischen Paschtunen wurde der Vater bis dahin gezwungen, in den Iran zu fahren und Waren abzuholen, die diese in Afghanistan verkaufen wollten. Um ihre geschäftlichen Verluste auszugleichen, fordern sie die Witwe später auf, ihnen ihre zwei Söhne quasi als Sklaven mitzugeben. Da gerät diese in Panik und beschließt nach einiger Zeit, Enaiat über die Grenze in Sicherheit zu bringen.

Drei Gebote sind es, die seine Mutter ihm mitgibt, nachdem sie ihn nach Pakistan gebracht hat: erstens keine Drogen zu nehmen, zweitens keine Waffen zu benutzen und drittens nicht zu stehlen. Sie sind die Richtschnur, an die er sich hält, wenn er sich künftig allein durchschlägt. Denn kaum hat seine Mutter jene Worte gesprochen, ist sie am nächsten Tag auch schon verschwunden. Als würde er den Ernst der Lage sofort begreifen, sucht er sich rasch eine Unterkunft und Arbeit. Bereits hier zeigen sich seine besonderen Charakterzüge, ohne die er nicht überleben könnte: Er ist aufgeweckt, ehrlich, unerschrocken und verlässlich. Vor allem aber sind es seine Bodenständigkeit und Nüchternheit, die ihm Ruhe und Kraft geben.

Dass Enaiat nicht scheitert, hat aber auch mit großem Glück zu tun. In der Erzählung, die Geda, um ihr mehr Authentizität, Spannung und Emotionalität zu verleihen, aus Enaiats Perspektive beschreibt, scheint aber auch durch, welch große Gefahren er durchlebt: So arbeitet er mal als Bauarbeiter, spart sein Geld und bezahlt damit die Schmuggler. Mit anderen „Illegalen“ wandert er über Berge in ein Nachbarland ein, lässt sich dann eingezwängt in einen Lastwagen weiterfahren und bekommt später ein Schlauchboot, das ihn an die andere Küste bringen soll. Es verstreichen oft ein oder mehrere Jahre, bis Enaiat weiterreisen kann. Die Erlebnisse, die er auf seine nüchterne Art schildert, lassen einen mitunter sprachlos und mit der Frage zurück, wie er die zahlreichen Extremsituationen so viele Jahre unverarbeitet mit sich tragen kann, ohne daran zu zerbrechen. Es muss sein starker Charakter und dabei vor allem das stete „Bedürfnis, frei atmen zu können“ sein, das ihn alle negativen Erfahrungen, das Fehlen von Liebe und Geborgenheit, von genügend Essen und Schlaf, Erziehung und Schule, überwinden lässt.

„Wie findet man einen Ort, an dem man sich weiterentwickeln kann, Enaiat? Woran erkennt man ihn? – Daran, dass man nicht mehr weggehen will. Aber bestimmt nicht daran, dass er perfekt wäre. So etwas wie einen perfekten Ort gibt es nicht. Aber es gibt Orte, an denen man wenigstens in Sicherheit ist.“ Ein solcher Ort wird für Enaiat Italien, wo er nach jahrelanger Odyssee – über Pakistan, den Iran, die Türkei und Griechenland – ankommt. „Im Meer schwimmen Krokodile“ geht aber über die reine Nacherzählung dieses Flüchtlingsschicksals hinaus. Das Buch zeigt eindrucksvoll, weshalb Menschen so langjährige, strapaziöse Wanderungen mit zum Teil traumatischen Erlebnissen auf sich nehmen. Es zeichnet den Leidensweg der „Illegalen“ nach, die Angst davor haben, krank und hilfsbedürftig zu werden und sich vor der Polizei hüten, da diese sie fangen und sofort abschieben würde.

Geda wirft zugleich einen Blick auf die Mechanismen der illegalen Einwanderung, auf die Funktion der Schmuggler, die das Elend der Menschen zu einem Geschäft machen. Er verweist ebenfalls auf die Grauzonen, in denen sich die Flüchtlinge mitunter bewegen, und betont, dass das Verhältnis zu ihnen stets ein ambivalentes bleibt. Hierzu gehört das Vorgehen von Polizei- und Ordnungskräften, die die „Illegalen“ mitunter als Geldquelle ansehen, zum anderen aber auch die Nachfrage nach Arbeitskräften, die Unternehmer veranlasst, sie bei sich einzustellen, so auf den Baustellen für die OIympischen Spiele 2004 in Athen, die mit Hilfe von „Illegalen“ wie Enaiat betrieben wurden.

„Im Meer schwimmen Krokodile“ bietet dem Leser trotz der zahlreichen abenteuerreichen, oft sehr gefährlichen Erlebnisse letztlich ein Happy End. Enaiats glückliche Geschichte ist aber dennoch eine Ausnahme. Denn nicht alle Flüchtlinge schaffen es, Europa zu erreichen. Einige von denen, die den Protagonisten ein Stück begleiten, kommen im Laufe der Flucht in Haft, in Auffanglager oder sterben. Auch davon erzählt Fabio Gedas dicht geschriebenes und gut in einem Zug zu lesendes Buch. So nachdenklich es auch macht, dass man immer wieder innehalten muss, zuletzt bietet es dennoch Trost und Hoffnung – und zwar durch die Güte der Menschen, die sich wiederholt bereit erklärten, Enaiat bei sich aufzunehmen und zu versorgen, ihm Mut zu machen und es ihm auf diese Art zu ermöglichen, seinen Weg fortzusetzen.

Titelbild

Fabio Geda: Im Meer schwimmen Krokodile. Eine wahre Geschichte.
Aus dem Italienischen übersetzt von Christiane Burkhardt.
Knaus Verlag, München 2011.
187 Seiten, 16,99 EUR.
ISBN-13: 9783813504040

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