Verdächtigung als Konzept
Saul Friedländer strickt in „Pius XII. und das Dritte Reich“ weiter an der Legende vom „Schweigen des Papstes“
Von Benno Kirsch
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDer C.H. Beck Verlag hat Saul Friedländers „Pius XII. und das Dritte Reich“ neu herausgebracht. Was bewegt den Verlag dazu, eine Quellensammlung über das Verhältnis des Papstes zum Dritten Reich, die 1965 erstmals auf Deutsch erschien, rund 45 Jahre später erneut aufzulegen? Das kann nur die Überzeugung sein, dass die seinerzeit vorgelegte Sammlung nach wie vor dem entspricht, was man landläufig als „Stand der Forschung“ bezeichnet. Dass also das, was nachher – von wem auch immer – veröffentlicht wurde, den seinerzeitigen Stand nicht erreicht hat. Und falls doch etwas erschienen ist, das zumindest einer Erwähnung wert ist, nun, dafür ist dann das Nachwort gedacht.
Der Band enthält zahlreiche Dokumente aus verschiedenen amerikanischen, britischen und anderen Provenienzen, „vor allem aber die größtenteils unveröffentlichten Akten des Auswärtigen Amtes im Dritten Reich“. Die beiden wichtigsten deutschen Diplomaten im Umgang mit dem Vatikan waren Diego von Bergen – 1920 bis 1943 deutscher Botschafter beim Heiligen Stuhl – und Staatssekretär Ernst Heinrich von Weizsäcker, der von Bergen auf diesen Posten folgte. Ihre Briefe und internen Aufzeichnungen machen das Gros der abgedruckten Dokumente aus. Dass diese Auswahl aus wissenschaftlicher Sicht problematisch ist, ist Friedländer bewusst, doch er hielt sie bereits bei der Erstveröffentlichung für „unparteiisch“ und geeignet, „einen nützlichen Beitrag zur historischen Forschung“ zu erbringen.
Hat die Auswahl der Dokumente also bereits – gelinde gesagt – eine gewisse Schlagseite, so gibt sich Friedländer in seinen Kommentierungen alle Mühe, das Boot – um im Bild zu bleiben – vollends zum Kentern zu bringen. Sie stehen nämlich allzu oft im Dienst der Bemühungen, dem Papst zu unterstellen, er habe über sichere Informationen über den Holocaust verfügt, aber absichtsvoll geschwiegen und sich damit der unterlassenen Hilfeleistung schuldig gemacht. Unausgesprochen wird darüber hinaus vorausgesetzt, dass es sinnvoll gewesen wäre, das nationalsozialistische Unrecht in die Welt hinauszuschreien und öffentlichkeitswirksam Anklage – am besten verbunden mit der Exkommunikation – gegen Adolf Hitler und seine Entourage zu erheben. Da das alles nicht geschehen ist, der Papst also „geschwiegen“ hat, ergeht sich Friedländer in Spekulationen über seine Motive und suggeriert am Ende sogar, dass dem Papst zwar das NS-Regime nicht sympathisch war, von diesem aber gegenüber dem Kommunismus als das kleinere Übel angesehen wurde.
Ganz unterschlagen kann Friedländer indes nicht, dass Pius XII. alles in seiner Macht stehende tat, um verfolgten Juden zu helfen. In einer Fußnote muss er beispielsweise zugestehen: „Das Zionistische Archiv besitzt eine große Zahl von Dokumenten über die unermüdliche Tätigkeit Mgr. Roncallis für die Juden. Wir betonen jedoch, daß Mgr. Roncalli erklärt hat, alles, was er auf diesem Gebiet getan habe, sei auf Veranlassung des Papstes geschehen.“
Ansonsten gesteht er ein ums andere Mal sein Unwissen ein. „Die uns verfügbaren Dokumente erlauben freilich nur Vermutungen. Auch hier kann man nur hoffen, daß das Archiv des Vatikans dem Forscher bald ermöglicht, zu einer endgültigen Antwort zu gelangen.“ Oder: „Wir betonen noch einmal, daß uns allein das Archiv des Vatikans über die genauere Formulierung dieser Note Klarheit verschaffen könnte.“ Das ist eine von Friedländers Botschaften, die sich durch das gesamte Buch hindurch zieht: Wenn, ja wenn der Vatikan endlich seine Archive öffnen würde, dann, ja dann könnte man die ganze Wahrheit über Pius XII. und sein Schweigen erfahren!
Dass es Friedländer mit dieser Hoffnung allerdings vielleicht doch nicht ganz ernst ist, erschließt sich aus dem Nachwort „Pius XII. und der Holocaust. Eine Neubewertung“. Neu ist hier gar nichts, denn was er weiß, ist ihm genug; dass er vieles nicht weiß, passt ihm ins Konzept. Folgerichtig hat er für die zwischen 1965 und 1981 – also nach dem Erscheinen seiner Quellensammlung 1964 – vom Vatikan herausgegebene elfbändige Edition mit über 5.000 Dokumenten aus den Kriegsjahren rein gar nichts übrig: Die wurde nämlich „von vier jesuitischen Historikern herausgegeben“ und ist „so selektiv angelegt, daß sie unter keinen Umständen als eine hinreichende Grundlage für die historische Forschung gelten kann.“
Den Wert der Sammlung stuft Konrad Repgen in der „F.A.Z.“ (5. März 2001) freilich ganz anders ein: „Die Qualität der vatikanischen Edition entspricht den hohen Standards der parallelen Aktenpublikationen der westlichen Staaten. Hauptsächlich politisch begründete Zweifel an ihrer Vertrauenswürdigkeit wurden und werden gelegentlich formuliert, sind aber nie substantiiert worden und daher wissenschaftlich schwer diskutierbar.“
Dass sich Friedländer mit seinem Nachwort aus wissenschaftlicher Sicht nicht gerade mit Ruhm bekleckert, wird auch am Umgang mit der in den letzten Jahren erschienen Literatur zum vermeintlichen Schweigen des Papstes erkennbar. Zwar erwähnt er seriöse Forscher wie Hubert Wolf, allerdings bezieht er sich auch auf wenig reputable Autoren wie Klaus Kühlwein („Warum der Papst schwieg“), Susan Zuccotti („Under His Very Windows“) und John Cornwell („Hitler’s Pope“). Profilierte Verteidiger von Pius XII. wie David G. Dalin („The Myth of Hitler’s Pope“), Michael Hesemann („Der Papst, der Hitler trotzte“) oder Michael F. Feldkamp („Pius XII. und Deutschland“) bleiben unbeachtet. Außerdem kramt er – man glaubt es kaum – den berühmt-berüchtigten Bericht von 1919 aus der Mottenkiste hervor, von dem längst bekannt ist, dass Cornwell ihn in einer entstellenden Übersetzung verbreitet hat, um Pius XII. eine antisemitische Gesinnung „nachzuweisen“ (vergleiche Hesemann: „Der Papst, der Hitler trotzte“). Und er erwähnt – es geht noch toller – die Geschichte vom Papst als Entführer überlebender jüdischer Kinder, als handele es sich um ein historisches Faktum und nicht um eine moderne „schwarze Legende“ (vergleiche Dalin: „The Myth of Hitler’s Pope“).
Warum versteigt sich Friedländer dazu, die Legende vom „Schweigen des Papstes“ weiterzuspinnen? Was immer ihn antreibt: Sein Buch mag seine Verdienste gehabt haben – in den 1960er-Jahren. Doch die Neuauflage bringt die Forschung keinen Schritt weiter, im Gegenteil. Dazu trägt vor allem das Nachwort bei, bei dem es ihm im Kern um die nicht gerade wissenschaftliche Frage geht, ob Pius XII., „als ihm das Ausmaß der Vernichtung bewusst wurde, Mitleid mit Juden gezeigt“ hat. Dass es taktisch durchaus nicht ungeschickt ist, auf die vermeintlichen Geheimnisse des Vatikanischen Archivs zu verweisen, ist klar. Wem fallen da nicht augenblicklich entsprechende Klischees ein, die den Vorwurf der Unterschlagung von Informationen durch die Kurie so plausibel erscheinen lassen? Allerdings fragt man sich, bei wem er mit dieser Masche punkten will: beim Boulevard, der Verschwörungstheorien nicht abgeneigt ist, oder bei der wissenschaftlichen Zunft, die an Aufklärung interessiert ist?
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