„das hättest du sehen müssen, how das ding collapsed“

Erzählweisen vom 11. September 2001

Von Christoph DeupmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christoph Deupmann

In Christof Magnussons 2011 erschienenem Roman „Das war ich nicht“ erleidet der international gefeierte Schriftsteller Henry LaMarck eine Schreibblockade, nachdem er in einer Talkshow leichtsinnigerweise einen Roman über den 11. September angekündigt hat. Nun erwartet die Welt – und vor allem sein Verlag – einen „Jahrhundertroman“, von dem indes außer einem vollgeramschten Arbeitszimmer mit Recherchematerial noch nichts, keine einzige Zeile, existiert. Er wird den Roman auch nicht mehr schreiben. Stattdessen wird er in eine groteske Handlung verstrickt, an deren Ende sein Millionenvermögen verschwindet und das baufällige Haus seiner deutschen Übersetzerin in der norddeutschen Provinz dem Weltschriftsteller als letzte Zuflucht erscheint. Denn der Roman, der diese Geschichte von Ehrgeiz, Scheitern und unverhofftem Glück erzählt, hat statt des 11. September ein anderes Thema im Blick: die globale Finanzkrise – versehentlich ausgelöst von einem Bochumer Wertpapierhändler in Chicago, der eigentlich nur das Beste beabsichtigt hat.

Auch wenn Magnussons Roman keine ‚9/11-Geschichte‘ erzählt und die globale Finanzkrise nach der Bankenpleite schließlich niemand verursacht haben will, stellen sich doch einige Fragen: Hat ein Roman über den 11. September wirklich das Zeug zum „Jahrhundertroman“? Und welches Jahrhundert ist damit eigentlich gemeint – das gerade begonnene oder vielleicht eher ein weniger scharf terminiertes Jahrhundert großräumiger Kulturkonflikte, wirtschaftlicher Verhältnisse oder der wiedergekehrten Religionen? Vor allem aber drängt sich eine Frage auf: Haben andere Ereignisse oder Zäsuren den 11. September als markantesten Einschnitt am Beginn des neuen Jahrtausends inzwischen bereits wieder abgelöst?

Hinweise darauf gibt es durchaus. Der Tod Osama Bin Ladens am 2. Mai 2011 sieht schließlich wie der Abschluss eines Kapitels der Zeitgeschichte aus, das mit dem 11. September 2001, knapp zehn Jahre zuvor, auf spektakuläre Weise einsetzte. Der Reaktorunfall im japanischen Fukushima infolge eines Tsunamis am 11. März 2011 hat zumindest in Deutschland eine ‚Energiewende‘ herbeigeführt, die ihm die Bedeutsamkeit einer Zäsur verleiht. Und die bei Magnusson mit dem gescheiterten literarischen 9/11-Projekt verknüpfte Finanz- und Wirtschaftskrise stellt eben auch ein globales Ereignis dar, dessen Folgen die Welt noch immer – mit bisher unabsehbaren Folgen – in Atem halten. Zu schweigen von der Kaskade politischer Revolutionen, die den nordarabischen Raum im Augenblick erfasst.

Ground zero der Literatur?

Dabei ist die Zäsur des 11. September zunächst auch als ästhetische behauptet worden. Die Formel der politischen Rhetorik, von diesem Datum an sei ‚nichts mehr wie zuvor‘, ließ sich auch auf das Gebiet der Literatur übertragen: Ground zero markiere einen „Nullpunkt der Literatur“, meinte Ina Hartwig in der „Frankfurter Rundschau“. Mit dem 11. September, schrieb Volker Hage im Oktober 2001 im „Spiegel“, sei „Schluß mit Pop-Tralala, ernster Ton, elementare Themen“. Hubert Spiegel interpretierte Christian Krachts (eher zufällig im September erschienenen) Roman „1979“ im Licht der Anschläge von New York und Washington als „Auslöschungsphantasie“ und „Endpunkt“ der deutschsprachigen Popliteratur: „Selbsthaß als Lebensgefühl des Westens“. Das Ereignis vom 11. September machte auch der Literaturkritik offenbar ein ‚Angebot‘, mit der hedonistischen Pop-Kultur und -Literatur der 1990er-Jahre abzurechnen.

Dass der 11. September tatsächlich binnen kürzester Frist der Literatur zum produktiven Erzählanlass würde, hat Behauptungen von einem literarischen ‚Nullpunkt‘ allerdings widerlegt. Die Literatur wartete nicht einmal jene „ästhetische Inkubationszeit“ ab, die Andrea Köhler im „Merkur“ für die literarische Darstellbarkeit des Ereignisses angenommen hatte. Die ersten deutschsprachigen Texte erschienen bereits 2002, allen voran Briefwechsel, Autoren-Tagebücher und Essays, die mit Hilfe des schnellen Mediums Internet zeit- und in manchen Fällen auch ortsnah hervorgebracht wurden: Barbara Bongartz’ und Alban Nicolai Herbsts Briefroman „Inzest oder Die Entstehung der Welt“, Else Buschheuers „New York Tagebuch“ „www.buschheuer.de“. Hinzu kamen Essays wie Kathrin Rögglas „really ground zero“ und Rafik Schamis „Mit fremden Augen“ oder Arnold Stadlers Textsammlung „Tohuwabohu“. Durs Grünbeins „September-Elegnien“ haben das Ereignis auch in der Lyrik thematisiert. Und hinzu kam mit Ulrich Peltzers „Bryant Park“ ein früher begonnener Erzähltext, in dem sich die Zäsur des 11. Septembers auch formal als Einschnitt zur Geltung bringt. Fréderic Beigbeders „Windows on the World“ (2004), Jonathan Safran Foers „Extremely loud & incredibly close” (2005) und Don DeLillos “Falling Man” (2007) waren auch in Deutschland viel gelesene Romane. Sogar die „graphic novel“ – Art Spiegelmans “In the Shadow of no Towers” (2004) – hat sich des Stoffes angenommen. Und Thomas Lehrs erst 2010 erschienener Roman „September. Fata Morgana“, ein Roman der doppelten Perspektive auf den Anschlag von New York und seine kriegerischen Folgen aus nordamerikanischer und irakischer Sicht, belegt eine bis heute offenbar ungebrochene Produktivität desselben Themas. Mag auch ein „Jahrhundertroman“ – dem Urteil der Kritik zufolge wie dem eigenen Anspruch nach – nicht darunter gefunden werden, kann von einem ‚Nullpunkt‘, einer Krise ästhetischer Bewältigungen oder gar von Schreibblockaden wie im Falle des fiktiven Pulitzer-Preisträgers Henry LaMarck in Magnussons Roman schlechterdings keine Rede sein.

Turn on TV

Fukushima oder die gloable Finanzkrise sind freilich als weltmaßstäblich rezipierte Ereignisse bildarm geblieben: Jedenfalls haben sie keine mit den Bildern der brennenden Türme des World Trade Centers vergleichbare Ereignis-‚Ikonen‘ hervorgebracht, die sich dem globalen Bildgedächtnis eingebrannt hätten. Erst recht ist der Tod Osama Bin Ladens – aus offenbar bildpolitischen Gründen – bemerkenswert bildlos geblieben. Die Terroranschläge vom 11. September haben sich dagegen – wiederum mit medienpolitischem Kalkül – von Anfang an auf dem Schauplatz der Fernsehbildschirme zugetragen. Diese massenmediale Bildmächtigkeit wirkte freilich als ästhetische Anstiftung und als Problem zugleich. Denn sie stellte allen literarischen Bearbeitungen des Themas den Primat der technischen, massenmedial verbreiteten Bilder voran, mit denen sie sich auseinander zu setzen hatten: Bei den Anschlägen auf die symbolischen Zentren der westlichen Leitmacht USA in New York und Washington war gewissermaßen jeder ‚dabei‘ – als Einwohner und Augenzeuge einer global public sphere, dessen Bescheidwissen durch keine literarische Darstellung überboten werden kann. Das Privileg der authentischen Zeugenschaft, dessen Formeln Aischylos’ zeitgeschichtliche Tragödien „Die Perser“ und „Sieben gegen Theben“ in der griechischen Antike den auftretenden Boten in den Mund gelegt haben – „Ich war dabei, ihr Perser“, „mit eignen Augen Zeuge dessen, was geschehen“ – haben die modernen Massenmedien längst im globalen Maßstab demokratisiert. Man kennt natürlich immer schon die Bilder. Wie also lässt sich von einem Ereignis erzählen, das jeder Fernsehzuschauer kennt? Und wie lässt sich dabei eine Zuständigkeit literarischer Texte zur Geltung bringen, die nicht durch andere Medien abzugelten ist?

Bilder, die jeder kennt

Etwa so. Literarische Darstellungen des 11. September sind nicht zuletzt Auseinandersetzungen mit ihrer Medienwirklichkeit. In Bongartz’ und Herbsts Briefroman-Fragment „Inzest“ wird etwa der Email- und Short-Message-Verkehr protokolliert, mit dem das Ereignis zunächst kommuniziert worden ist:

„16:31 ARABISCHE FLUGZEUGE HABEN DAS WORLD TRADE CENTER ZERSTÖRT. EIN DRITTES FLOG IN

16:32 WOLLEN SIE MICH VERARSCHEN?

16:33 DAS PENTAGON. SPRACHLOS.

16:35 FINDEN SIE DAS KOMISCH?

16:37 NEIN! SCHALTEN SIE EIN RADIO EIN!

…………….

16:44 SIND SIE DA?

……………

17:10 HERBST, DIE TÜRME! SEHE TV, BIN IM HOTEL“

Es gibt eine Art mediale Äquidistanz, die bewirkt, dass jeder dem Ereignis gleich nah oder von ihm entfernt ist. Tatsächlich haben die Autoren, die sich zum Zeitpunkt des Ereignisses in direkter Nähe zum ‚realen‘ Schauplatz befanden, den Zuschauern vor den Bildschirmen kaum etwas an Wissen oder Erfahrung voraus. Else Buschheuer, die sich am 11. September nur drei Kilometer vom World Trade Center entfernt befand, teilt in ihrem Internet-Tagebuch auf Interview-Anfragen mit: „ich bin nur halb eine Augenzeugin, eigentlich bin ich eine Ohrenzeugin, keinesfalls habe ich ‚alles miterlebt‘.“ Ihre elektronischen Korrespondenzpartner wissen zum selben Zeitpunkt fast mehr als sie selbst. „Wir haben den ganzen tag ferngesehen“, schreibt die New Yorker Stipendiatin Katrin Röggla in einer bei Peltzer mitgeteilten Mail. Ulrich Peltzer, der zum selben Zeitpunkt gerade aus New York nach Deutschland heimgekehrt war, erzählt in „Bryant Park“ über mehrere Seiten hinweg nur die Fernsehbilder nach. Während er bis dahin vier verschiedenen Zeitebenen miteinander verschaltet, stellt er mit dem 11. September mit einem Mal auf die monologische Nacherzählung des überall zu Sehenden um:

Es sind auf allen Kanälen plötzlich Bilder zu sehen, die man nicht glaubt, gigantische Staubwolken, einstürzende Wolkenkratzer, Boeing-Flugzeuge, die in Hochhäuser rasen […]

wie Puppen segeln Verzweifelte, die sich aus den Fenstern gestürzt haben,

knallen im Flug gegen die Fassade,

rotschwarz leuchten Feuerbälle aus Kerosin,

das eine Flugzeug durchbricht das Gebäude wie nichts, Stahlteile und Beton brocken wirbeln durch die Luft,

es stürzt alles zusammen […]

Peltzers Erzählung überlässt sich der vermittelten, aber unabweisbaren Präsenz der massenmedial vermittelten Bilder, die kaum noch eine reflexive Distanz zulassen. Diese Nacherzählung der Bilder, die jeder kennt, lässt den ‚Mehrwert‘ der literarischen Darstellung nicht unbedingt evident erscheinen. Aber sie sagt doch etwas über die mediale Konstituierung des Ereignishaften aus: Die literarische Bilderbeschreibung entfaltet das Paradox, dass Ereignisse erst durch ihre Wiederholung in den Massenmedien zu ‚öffentliche‘ Ereignissen werden, indem sie diese Wiederholung wiederholt. Weit davon entfernt, dass die Wiederholung das singuläre Ereignis ‚vernichtet‘, bringt sie es vielmehr erst hervor – und bewirkt dadurch die Unterbrechung eingeübter Wahrnehmungsroutinen, die Peltzers Text durch die Selbstunterbrechung seines eigenen Verlaufs ausstellt.

Aber Kathrin Rögglas (in Peltzers Erzählung zitierte) E-Mails aus New York dokumentieren auch die andere, spektakuläre Seite dieser Ereignishaftigkeit. Denn infolge derselben Medialisierung nimmt der Schock sehr rasch auch die Form des Sensationellen an: „wir haben überhaupt keinen rauch abgekriegt, obwohl das unglück ca 700 m von uns passiert ist. das hättest du sehen müssen (ist einem eigentlich nicht zu wünschen), how das ding collapsed. waahhhhnsinn!“.

Unmögliches Erzählen

Oder so. Wo niemand mehr existiert, der noch zu erzählen ver mag, wie es in Ovids „Metamorphosen“ im Hinblick auf den Augenzeugen Aktäon heißt, der die Göttin Diana beim Baden beobachtet hat; wo alle starben, die oberhalb der Einschläge der Flugzeuge im World Trade Center eingeschlossen waren; wo es also auch keine mediale Beobachtung ‚von außen‘ mehr geben konnte, da vermag einzig die Fiktion die leere Stelle des ‚Zeugen‘ zu besetzten. In Fréderic Beigbeders Roman „Windows on the World“ werden die letzten zwei Stunden („8 h 30“ bis „10 h 29“) im Leben eines texanische Immobilienmaklers und seiner zwei Söhne im gleichnamigen Restaurant im 102. Stockwerk des nördlichen Turms erzählt: Die Fiktion besetzt die „Lücken und Löcher im Kontinuum der Bildwelt“, auf die schon Günter Anders die Literatur im Medienzeitalter hingewiesen hat. Die Fiktion zieht ins ‚heiße’ Zentrum des Ereignisses ein, von dem kein Zeugenbericht existiert. Parallel dazu bedenkt die Autorfigur „Beigbeder“ aber auch die ethischen und erkenntnistheoretischen Bedingungen seines Erzählens: Der Roman nimmt damit die Unmöglichkeit authentischen Erzählens in sich auf. Von einem bestimmten Zeitpunkt an wird freilich jede Fiktion unmöglich, und der Versuch, im Medium der Literatur „das Unsagbare zu sagen“ („mission impossible“), führt die Fiktion an die Grenze des Schweigens heran: „(page coupée)“ heißt es gleich zweimal im Text. Wo die Fiktion an die Wirkichkeit nicht mehr heranreicht, bleibt die Druckseite leer.

Grenzüberschreitungen

Oder vielleicht so. Wo sich die Massenmedien auf eindeutige Urteile richten, kann die Literatur die Perspektiven der ausgeschlossenen ‚Anderen‘ zur Geltung bringen. Thomas Lehrs Roman „September“ tut dies durch eine gedoppelte Sicht, die der Wahrnehmung eines amerikanischen Vaters, dessen Tochter beim Anschlag auf das World Trade Center ums Leben kam, die Sicht des irakischen Vaters eines im Irak-Krieg getöteten Soldaten gegenüber stellt. Die Fiktion setzt die Opfer des 11. September in Relationen, die vom politischen Diskurs nicht vorgesehen sind. Auch Don DeLillos 9/11-Roman „Falling Man“ hat diese differenten Sichtweisen auf virtuose Weise zusammengeführt, indem er die Perspektive eines Täters in die eines Opfers innerhalb derselben Satzkonstruktion übergehen lässt. Genau im Moment des tödlichen Einschlags lässt der Roman die Wahrnehmung des Terroristen mit der des Opfers zusammenprallen:

„A bottle fell off the counter in the galley, on the other side of the aisle, and he watched it roll this way and that, a water bottle, empty, making an arc one way and rolling back other, and he watched it spin more quickly and then skitter across the floor an instant before the aircraft struck into the tower, heat, then fuel, then fire, and a blast wave passed through the structure that sent Keith Neudecker out of his chair and into the wall. He found himself walking into a wall. He didn’t drop the telephone until he hit the wall. The floor began to slide beneath him and he lost his balance and eased along the wall to the floor.“

Die Fiktion imaginiert nicht nur, was keine technische Aufzeichnung wiedergeben kann, sondern wiederholt das unbezeugte Geschehen gleichsam „in slow motion“ – in einer Naheinstellung, die nur der Fiktion möglich ist. Es ist das Privileg des Romans, sich sowohl ins Bewusstsein des Opfers wie ins Bewusstsein des Täters hinein zu versetzen. Und er inszeniert den Moment der tödlichen ‚Transgression‘ genau in dem Moment, der den unabbildbaren, nur in der Fiktion imaginierbaren Kern des Ereignisses ausmacht.

Leerstelle 9/11

Oder doch so: Wo die Bilder und Hintergründe der Terroranschläge als allgemein bekannt vorausgesetzt werden können, setzt der literarische Diskurs das Ereignis als Leerstelle der Beschreibbarkeit wieder ein. Wenn der 11. September sich bereits zu einem assoziationsfesten Datum verfestigt hat, zeigt sich der Umschlag von Ereignis in Erwartbarkeit an. Das stellt wiederum die Möglichkeit in Abrede, vom Ereignis überhaupt – geschweige denn authentisch – erzählen zu können: „Angela Merkel sagte das, was Angela Merkel halt zu sagen pflegt, wenn Terroristen in Hochhäuser hineinfliegen“, schreibt Max Goldt in seinem satirischem Tagebuch „Wenn man einen weißen Anzug anhat“. „Und dann kam auch noch Edmund Stoiber, und ich glaube, er war es, von dem ich zuerst den Satz hörte, nun sei nichts mehr wie zuvor. Nach Edmund Stoiber stellte ich den Fernseher aus.“ Dass Goldts „Tagebuch-Buch“ nach lediglich vier Seiten auf den „ereignisverzerrte[n] Tag“ einfach nicht mehr zurückkommt, zieht aus dieser Normalisierung eine plausible Konsequenz. In Paulus Hochgatterers „Eine kurze Geschichte vom Fliegenfischen“ (2003) hat das Ereignis sogar überhaupt nicht stattgefunden: „Als wir uns treffen, wissen wir nichts von dem, was an diesen Tag passieren soll, weder von der Sache mit dem World Trade Center noch davon, dass Julian in den Bärenklau [eine Brandverletzungen verursachende Pflanze] fallen wird und dann in den Fluss. Das Wetter ist anders, als wir es uns vorgestellt haben, das wissen wir.“

Auf den rund einhundert folgenden Seiten wird lediglich vom Ausflug zum Fischen, von Männergesprächen über Frauen, Fischköder und andere, im Licht des gleichzeitigen Ereignisses völlig nebensächliche Gegenstände gesprochen. Selbst als der Erzähler auf der letzten Seite auf den verpassten Termin mit der unmittelbaren Zeitgeschichte zurückkommt, wird die Nachricht kaum ernsthaft registriert: „Als der Ire zurückkam, macht er einen komischen Eindruck. Er schüttelt unablässig den Kopf und ist blass, andererseits hat er sichtlich Mühe, das Lachen zu unterdrücken. ‚Ihr werdet nicht glauben, was passiert ist‘, sagt er, ,ihr werdet es nicht glauben.‘“ Das nimmt Jean Baudrillards simulationstheoretische These auf spielerische Weise beim Wort, dass das Ereignis vom 11. September gar nicht stattgefunden hat. Für die erzählten Figuren gilt es im wörtlichen Sinn, weil sie von seiner medialen Vermittlung (zumindest für eine Weile) ausgeschlossen sind.

Hochgatterers Erzählung konterkariert so auf ironische Weise den Topos der Zäsur, den der politische Diskurs mit dem Datum des 11. September verbunden hat. Zu sehr ist das Datum offenbar schon zu einem Label („die Sache mit dem World Trade Center“) geworden, als dass der Roman ihm noch eine schockhafte Qualität abgewinnen könnte. „Ja“, quittiert der Erzähler die gerade mitgeteilte, unerhörte Nachricht lakonisch: „manchmal passieren eigenartige Dinge“. Gerade dadurch respektieren Max Goldts und Paulus Hochgatterers Texte die Unerzählbarkeit des Ereignisses, dass sie es beschweigen.

„Dann flaut die Erregung ab“

Oder schließlich auch so. Der Topos der politischen und sogar literaturkritischen Rhetorik, dass seit dem 11. September nichts mehr so sei wie zuvor, ist zuerst von literarischen Texten in Frage gestellt worden. Fast gleichzeitig mit der behaupteten Zäsur war bereits der Zweifel da, dass es so ernst damit doch auf Dauer nicht sein kann. Wenn Durs Grünbeins „September-Elegien“ sich dem Ereignis vom 11. September zuwenden, sind die Toten bereits gezählt und die Trümmer auf ground zero weggeräumt. Die lyrische Stimme setzt hier ein:

Dann flaut die Erregung ab. Vom Anblick der Supernova
Erholen die meisten sich bei Arbeit, Glücksspiel und Sex.
Von allen Mementos bleibt als letztes das leise „It’s over“.
Man betet im Stillen, faltet die Zeitungen, trinkt sein Becks.
Heimgekehrt in die Liliput-Enge des Alltags gedenkt
Wer davonkam des Nachbarn, den ein Hammerschlag traf.
Schicksal, von Schläfern gemacht, erscheint nun als ferngelenkt.
Daß Flugzeuge Bomben sind, stört kaum den technischen Schlaf.
Verschämt sieht man manchmal zum Himmel auf. Was dort fliegt,
Könnte ein Erzengel sein, unterwegs zum gewohnten Fanal.

Schon mit dem ersten Wort („dann“) setzt der Gedichttext die Vertrautheit mit dem ausgesparten Ereignis voraus, das nur durch die Jahreszeit, verbunden mit der Klageform der Elegie, abstrakt bezeichnet wird. Statt auf das unbeschreibliche Ereignis referiert das Gedicht auf ein zur Kenntnis genommenes und schon wieder vergangenes Ereignis, das durch die Kontinuität des Alltags längst auf Distanz gebracht worden ist. Grünbeins Gedankenlyrik stellt diese Absorbtion des Außerordentlichen durch die Routinen des Gewohnten ins Zeichen eines anonymen „Man“: Die Verkleinerung der Erfahrung in der „Liliput-Enge“ des Alltags nimmt die Größe des Ereignisses zurück. So sehr hat die unaufhörliche bildmediale und diskursive Wiederholung dem Ereignis vom 11. September die Aura des Außerordentlichen ausgetrieben, dass das Fanal – wörtlich: das Feuerzeichen – bereits den Charakter des Alltäglichen angenommen hat: „ein Erzengel […], unterwegs zum gewohnten Fanal“. Dass die Verse die Flugzeuge vom 11. September mit Erzengeln vergleichen, bringt jedoch eine mythische Deutung des Ereignisses ins Spiel: Über sie wird ein literaturgeschichtlicher Resonanzraum erschlossen, der das thematisierte Ereignis – kontrastiv zur Banalität des sensationsaffin bebilderten Alltags – in einen bis auf die griechische Antike zurückreichenden Zusammenhang stellt. Daraus ergibt sich ein performatives Paradox: Der elegische Ton, auf den das Gedicht gestimmt ist, entspricht dem Klagegesang über ein tragisches Geschehen, während die inhaltliche Aussage diese Tragik gerade dementiert. Es ist der Verlust tragischer Erfahrbarkeit in der medialen Moderne, der den Gegenstand der elegischen Klage bildet.

Dieselbe Fatalität, die der Mythos ex post behauptet und die das Gedicht dementiert, bezieht es jedoch auf den Naturzusammenhang. Grünbeins Elegie zitiert einen Jahreszeiten-Zyklus, in dem die genuine Spätzeitlichkeit der Trauer sich mit der Metaphorik des nahenden Endes verbindet: „Herbst, der Regenmacher ist da“. Im Zeichen dieser jahres- und geschichtszeitlichen Korrespondenz zwischen Kalender und Katastrophe verbinden sich semantische Gegensätze: „Grippe und Terror, ist die Parole, an der man den Nächsten erkennt.“ Derselbe Zusammenhang erscheint in einem Zeitungsessay Grünbeins als blasphemischer Witz, bei dem einem „das Lachen im Halse stecken“ bleibt: „Dschihad, der Heilige Krieg, Dschihad. Aber es klingt wie Hatschi.“ Die provokante Engführung des Außerordentlichen mit dem unspektakulär Alltäglichen bezeugt eine Banalität des Bösen. Der Schock des Ereignisses gerät in die Nähe gewöhnlicher Inkommoditäten, mit denen sich letztlich immer schon recht komfortabel leben ließ.

Grünbeins Gedicht liest sich wie ein skeptischer Kommentar zu der formelhaften Behauptung, seit dem 11. September sei ‚nichts mehr wie zuvor‘. In ganz ähnlicher Weise hat Katharina Hackers Roman „Die Habenichtse“ die zeitgeschichtliche Zäsur relativiert: „Nichts hatte sich verändert. Es gab Schläfer, […] Namen und Dinge, die für sie hier nicht mehr bedeuteten als die Verwicklungen und Dramen einer Fernsehserie, über die alle sprachen […].“

Grünbeins Gedicht unterstreicht diese Banalisierung noch durch seine nachlässige Diktion, die sich über die ereignishafte Zäsur hinwegsetzt:

Unter all den Erregern, Sarkasmen, hey, fühlst du dich pudelwohl.
Rattenscharf in der Kälte, staunend, wie Zeit alles niederwalzt.
Recht so. Ist Liebe denn nicht dies berauschende Aerosol,
Das den Taumel zur Tanzstunde macht, im Kalender ein Halt?

‚Im Kalender ein Halt‘: Die normalisierende Verzeichnung des Ereignisses ist damit genau bezeichnet. „Auch die Wolke mit Trauerrand hat sich mittags verpißt.“ Die Sprache des Gedichts teilt auch ästhetisch eine Normalisierung mit, die dem 11. September im Zuge seiner massenmedialen Wiederholung und Diskursivierung widerfuhr. Dass die Sprache selbst dazu als ‚Reizschutz‘ und Absorptionsmittel möglicher Trauma-Erfahrungen im Sinne Sigmund Freuds und Walter Benjamins beiträgt, ist der lyrischen Stimme durchaus bewusst: „Sprache hilft uns, die verborgene Wunde sanft zu betupfen. / Wortlos schließt sich der Kreis: alles Unglück bleibt en famille.

In den letzten Verszeilen wird jedoch auch deutlich, dass die Konvertierung des Außerordentlichen in Normalität, die jedes Reden über das Ereignis vornimmt, auch dringend gebraucht wird, wenn metaphysische Versicherungen abhanden gekommen sind: „Was hilft es zu träumen, daß jemand beim Namen dich riefe? / Am Telephon die vertraute Stimme grenzt schon ans Wunderbare.“

Der Ausnahmezustand wird fortgesetzt, aber diese Fortsetzung verwandelt ihn in Normalität. Das gilt offenbar auch für literarische Texte, die das Ereignis thematisieren. Wann also wird aufgehört werden, vom 11. September zu erzählen? Solange nicht, wie das Datum Gegenstand des öffentlichen Interesses bleibt. Und sicher erst dann, wenn alle Möglichkeiten und Implikationen der Rede davon ausgedacht worden sind.