Im „Verwurstungsbetrieb des Lebens“

Wilhelm Genazino schreibt immer wieder dasselbe Buch – es zu lesen, ist nach wie vor ein nachdenklich stimmendes Vergnügen

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein Mann „im besten Alter“ drückt sich die Nase an den Schaufenstern einer Parfümerie platt, beobachtet vier junge Verkäuferinnen bei ihrem Tun – und plötzlich gerät ihm die Szene hinter der Scheibe zur Epiphanie: „Der Impuls des Weinenwollens löste sich in Höhe meiner Lunge dicht unterhalb des Halses und schlug dann hoch in die Kehle. Dort verweilte der Reiz eine Weile, meine Augen feuchteten sich ein, danach stieg der Reiz weiter nach oben bis hinter die Augen. Ich hätte es gern gesehen, wenn wenigstens eine der Verkäuferinnen meine Einfeuchtung entdeckt hätte. Ich glaubte, dass es sich um Tränen der Verehrung handelte, die ich den Frauen darbrachte. Kurz darauf bemerkte ich einen kleinen zärtlichen Schwindel. Tatsächlich weinte ich, weil die Frauen auf seltsame Weise den ebenso unscheinbaren Verkäuferinnen aus der Spielwarenhandlung von damals ähnelten, ja, ich hätte schwören mögen, dass es sich wirklich um die Verkäuferinnen von damals handelte, die mir den Schmerz meiner Kindheit vorführten.“

Wo sind wir hier? Natürlich in der Welt von Wilhelm Genazino. In der betritt man nicht mehr als ein Kaufhaus am Tag und das auch nur höchstens einmal in der Woche. Hier trägt der Mensch sein „Fertigschicksal“ in „Fertigwohnungen“ und isst am Abend – leise sich dabei schämend für die Art und Weise, wie er schon wieder die im Grunde verabscheute „Masse“ imitiert – „Fertigsalat“ zum Fernsehprogramm. Nach Schönheit sehnt er sich in dem Bewusstsein, dass diese häufig schon im Moment ihres Aufleuchtens zu erlöschen beginnt. Ansonsten werden mitten in der Nacht „postkoitale Ausflüge“ unternommen, man simuliert „Samenabgänge“ und spielt den Urlaubsmuffel, weil es ein Ding der Unmöglichkeit zu sein scheint, mit seinen „dunklen Sachen in einem hellen Land herumzulaufen“. Kurzum: Wie alle seine Vorgänger macht es auch der Held von Genazinos aktuellem Buch seinen Mitmenschen – uns Leser eingeschlossen – nicht leicht, ihn ohne Hintergedanken zu mögen. Schrullig und beladen mit Phobien kommt er daher und oft scheint der Grat sehr schmal zu sein, der ihn vom Wahnsinn trennt.

Mit „Wenn wir Tiere wären“ hat es Genazino, dem endlich auch einmal der Deutsche Buchpreis gebührte, 2011 wieder nicht auf die Shortlist geschafft. Dass seine Hauptfigur namenlos bleibt, stört nicht weiter, denn nichts könnte einem vertrauter sein als die antriebsarmen Großstadtgrübler, die nun schon seit Jahrzehnten in den Büchern dieses Schriftstellers das Frankfurter Pflaster treten. Im Grunde stellen sie alle mehr oder weniger den wunderlichen Zeitgenossen von nebenan dar – da bedarf es gar nicht dessen weitereR Individualisierung.

Ähnlicher jedenfalls ist uns allen dieser Menschentyp, als wir je zuzugeben bereit wären. Wir bedauern ihn ein wenig, wenn er an uns auf der Straße vorübergeht, bewundern ihn aber andererseits auch für die Kraft, mit den täglich sich wiederholenden Zumutungen des Lebens zurechtzukommen, jeden Morgen aufs Neue in Hemd, Hose und Jackett zu schlüpfen und sich einem im Grunde als sinnlos empfundenen Tagwerk zu widmen. Mit den Absonderlichkeiten des Alltags, für die er ein seismografisches Gespür zu besitzen scheint, hat er sich arrangiert, indem er noch das banalste Erlebnis sprachlich so spielerisch wie grandios ausschmückt und es damit in gewisser Weise verklärt, obwohl der emotionale Abstand zu den Dingen durch die häufig grotesk wirkende Sprachgenauigkeit größer zu werden scheint.

Für einen Helden dieses Zuschnitts ist natürlich alles problematisch. Die Frauen sind es, weil es einfach zu viele von ihnen in seinem Leben gibt. Welcher davon soll er sich wirklich öffnen? Und zu welcher bräche man am besten gleich morgen den Kontakt ab? Verspricht die Witwe eines verstorbenen Freundes so viel mehr als die langjährige Freundin oder die plötzlich wieder auftauchende Ex? Und braucht man die Unruhe überhaupt, die sie alle in ein Leben bringen, das nur aufregungslos abgelebt werden will?

Mindestens ebenso heftig wie das schöne Geschlecht beunruhigen Fragen des Lebensunterhalts. Schön wäre es, wenn man ganz ohne Job auskommen könnte, um sich vollständig dem Flanieren und Beobachten der Absonderlichkeiten des Daseins hinzugeben. Eine biedere Angestelltenexistenz hingegen, wie sie die meisten Figuren in Wilhelm Genazinos Romanen auszufüllen versuchen, strebt der als freier Architekt tätige Ich-Erzähler in „Wenn wir Tiere wären“ gar nicht erst an. Der Leser versteht ihn gut, denn kaum einmal gibt er Einblick in das, was er an Schreibtisch und Reißbrett unternimmt. Wir begleiten ihn auf seinen ausführlichen Streifzügen durch Frankfurt – zu seiner Arbeitswelt hingegen gewährt er uns nur selten Zutritt. Und wenn er dann wirklich vom Freelancer zum fest Angestellten befördet wird und die Position seines verstorbenen Freundes in einem namhaften Architekturbüro ausfüllen muss, wendet sich sein Dasein ziemlich rasch ins völlig Katastrophale.

Seit Jahrzehnten schreibt Wilhelm Genazino fleißig an ein und demselben Buch. Diesmal lässt er den Weg seines Protagonisten sogar bis ins Gefängnis führen. Nichts Weltbewegendes bringt ihn hinter Gitter. Es sind nur kleine Betrügereien, nicht einmal selbst ausgedacht, sondern dem verstorbenen Freund abgeschaut, die ihn in Konflikt mit dem Gesetz geraten lassen. Bald ist er deshalb auch wieder auf freiem Fuß. Denn Fluchtgefahr besteht nicht in einem Leben, das mit unsichtbaren Seilen fesselt und dessen Zwängen auch in scheinbarer Freiheit nicht zu entkommen ist.

Titelbild

Wilhelm Genazino: Wenn wir Tiere wären. Roman.
Carl Hanser Verlag, München 2011.
160 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-13: 9783446237384

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