Die Vergangenheit kleinster Dinge

In seinem Roman „Der Hase mit den Bernsteinaugen“ kleidet Edmund de Waal die Geschichte seiner Familie in ein europäisches Gewand

Von Markus BaumRSS-Newsfeed neuer Artikel von Markus Baum

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Erbschaften sind eine vielschichtige Angelegenheit. Sie künden zumeist von Verlusten vertrauter Menschen, für deren Hinterlassenschaften man fortan die Verantwortung trägt. Doch ebenso stellt ein Nachlass eine Bereicherung dar, denn er ruft Erinnerungen herbei, die oftmals dem Vergessen anheimgefallen sind. Dass solche Vermächtnisse keine einfachen Geschichten bergen, erzählt Edmund de Waal in seinem Roman „Der Hase mit den Bernsteinaugen“.

Der 1964 geborene de Waal ist ein britischer Künstler und Professor der Keramik. Er gehört der jüdischen, aus Odessa stammenden Familie Ephrussi an, die im 19. Jahrhundert durch Getreidehandel zu einer Bankiersdynastie aufstieg. Als Edmunds Großonkel Ignaz 1994 in Tokio stirbt, erbt er 264 geschnitzte japanische Figuren aus Holz und Elfenbein, die sich seit mehreren Generationen im Besitz seiner Familie befinden, die sogenannten Netsuke. Fasziniert von diesen winzigen Gegenständen überkommen Edmund Fragen danach, in welchen Räumen die Figuren einmal standen, und welche Beziehungen seine Verwandten zu ihnen unterhielten. Mit den Schnitzereien als Zeugen des Vergangenen im Gepäck, durchwandert er Europa, immer auf der Suche nach den Spuren seiner Familie in der Historie des Kontinents, des kulturellen und des politischen Raums.

Auf seiner Reise nimmt de Waal den Leser mit in das Paris der Belle Époque, in dem sein Urgroßonkel Charles Ephrussi zu einem bekannten Kunstsammler und Essayisten aufstieg. Regelmäßig verkehrt er mit Marcel Proust, dessen Swann an Charles angelehnt ist, oder mit Pierre-Auguste Renoir, auf dessen Gemälde „Das Frühstück der Ruderer“ er im Hintergrund mit schwarzem Hut gekleidet auftaucht. Dass Charles 1887 die Netsuke erwirbt, fällt in den Geist der Epoche: das vom Impressionismus bestimmte Klima zeichnete sich durch einen interessierten Blick in das ferne Japan aus. Als Hochzeitsgeschenk wandern die Figuren 1899 ins Wien des Fin de siècle zu Charles’ Cousin Viktor Ephrussi und dessen Frau Emmy – und mit ihnen Edmund. Dort angekommen, beschreibt er das Wien seines Urgroßvaters, von Sigmund Freud und Arthur Schnitzler als eine mit ornamentalen Prunk überladene Stadt. Etliche Parvenüs debattieren in Kaffeehäusern über Kunst und Literatur und werden zugleich von dem Gefühl heimgesucht, den Halt in der Gesellschaft verloren zu haben. Hinein in diese eigenartig übersättigt wirkende Zeit wird 1906 Edmunds Großonkel Ignaz geboren, über den die Netsuke letztendlich zu ihm gelangten.

Weil de Waal seine intensiven Studien historischer Quellen und privater Notizen im Roman thematisiert und einige Fotografien abgebildet werden, erhält das von ihm abgelegte Zeugnis geschichtlicher Momente einen authentischen Charakter. Der Leser wird in die spezifischen Stimmungen der Zeit versetzt. So spürt man das Entsetzen über das Ausmaß der Vernichtung im Ersten Weltkrieg und die Abneigung gegenüber den von Osten her nach Österreich ziehenden Juden am eigenen Leib. Mittels seiner zwei besonders geschulten Vermögen, dem visuellen und dem haptischen, nimmt er detailliert die vielfältigen Eindrücke auf. In den ehemaligen Wohnsitzen der Familie unterzieht de Waal die kleinsten Gegenstände wie die imposantesten Fassaden und Innenausstattungen der genauesten Betrachtung. Ausgestattet mit einem mikroskopischen Blick entschlüsselt er die Chiffren der Vergangenheit, die sich in den bewohnten Räumen zeigen. Durch seine Fähigkeit, Formen und Materialien durch Berührungen zum Sprechen zu bringen, entlockt er den Gegenständen ihre Geheimnisse und lässt den Leser nachvollziehen, wie elementar sie für die narrativ gestrickten Identitäten sind. „Es ist ein diskret-sinnlicher Akt der Enthüllung, ihre Sammlerstücke öffentlich gemeinsam zu zeigen. Und die Zusammenstellung der Lackarbeiten berichtet auch von ihren Verabredungen: Die Sammlung protokolliert ihre Liebesgeschichte“.

In dieser von de Waal so bezeichneten „Literatur der Berührung“ übernehmen die beschauten und befühlten Dinge die Rolle eines Mediums. Blitzartig erscheinen durch sie unterschiedliche Erinnerungsbilder in kristallisierter Form, die die Beziehungen der Individuen erkennbar werden lassen: „Und die Netsuke passen vollendet in Charles’ Salonleben“, zur abschweifenden Konversation und Zerstreuung. Sie fügen Charles’ Lebensart und dem Bilde davon „etwas ganz Eigentümliches hinzu. Sie sind die ersten Objekte, die eine Beziehung […] zu einem exotischen Alltagsleben“ haben. Da de Waals zwei Jahrhunderte umfassender Roman literatur-, kunst- und architekturgeschichtliche Momente sowie den politischen Wandel in die Handlung aufnimmt, wird die individuelle Familienerzählung in kollektive Erinnerungen eingebettet. Die Montage von zeitgenössischen Stellungnahmen bekannter Politiker und Literaten werden derart mit dem Schicksal der Ephrussis verwoben, dass sich darin dasjenige Europas zeigt. Im Zuge der Dreyfus-Affäre wird die liberale jüdische Familie Opfer des französischen Antisemitismus. Beladen mit Ressentiments distanzieren sich selbst befreundete Maler wie Renoir von Charles. Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs verwandelt unterschiedliche Familienmitglieder aufgrund verschiedener Nationalitäten in Gegner auf einem Schlachtfeld. Kriegsbegeistert ist in Wien nicht nur der sehr junge Ignaz, sondern auch Literaten wie Thomas Mann und Rainer Maria Rilke. Viktor dagegen bleibt reserviert gegenüber der Euphorie. 1918 verliert er einen Großteil seines Eigentums, ein Verlust, den de Waal über den veränderten Status der gesammelten Dinge charakterisiert: Waren sie einst lebendiges Zeichen eines erfüllten, öffentlichen Lebens, stellen sie nun eine belastete Erinnerung an verlorene Möglichkeiten dar.

Jedoch erzählt de Waal keine nostalgische Familiensage. Vielmehr drückt sich in seiner Thematisierung der eigenen Haltung zu den einzelnen Charakteren ein bedachter Umgang mit der Familiengeschichte aus. So beschreibt er den Drang der Familie, sich zugunsten einer vollständigen Assimilation von den sogenannten Ostjuden abzugrenzen. Er verschweigt nicht, dass der Kauf von Kunstwerken der Sicherung einer sozialen Position dienlich ist, spricht aber auch nie der leidenschaftlichen Hingabe zur Kunst und dem Essayistisch-Schriftstellerischen ihre Aufrichtigkeit ab. Da die Lebensläufe seiner Familie „durch Bücher gebrochen sind“, achtet de Waal behutsam darauf, dass sein Wien nicht „zum Wien anderer Leute ausgedünnt“ wird, darauf, seinen Zugang zur Vergangenheit nicht unterschiedlichen Stereotypen und Gemeinplätzen preiszugeben.

Mehr als durch eine sprachliche Virtuosität zeichnet sich „Der Hase mit den Bernsteinaugen“ durch eine präzise Quellenarbeit aus, die einen spannenden Zugang zur Vergangenheit erschließt. Er fasziniert, weil er eine in jeglicher Hinsicht detailreiche Erzählung über Europas Geschichte ist, die den Leser teilhaben lässt an der Atmosphäre des 19. und 20. Jahrhunderts. Sie ist jedoch nur eine spezifische Erzählung in der Perspektive einer enorm gut situierten, bürgerlichen jüdischen Familie. Daher mag die von de Waal beschriebene Welt zunächst fern und fremd erscheinen. Eine genaue Betrachtung aber zeigt, dass sie in den uns umgebenden, den an uns weitergegebenen Dingen fortlebt. Europa verlangt, mit diesem Erbe verantwortungsvoll umzugehen.

Titelbild

Edmund de Waal: Der Hase mit den Bernsteinaugen. Das verborgene Erbe der Familie Ephrussi.
Übersetzt aus dem Englischen von Brigitte Hilzensauer.
Paul Zsolnay Verlag, Wien 2011.
352 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783552055568

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