Auch unsere polnische Bibliothek

Karl Dedecius’ neue reichhaltige Anthologie mit „Literatur aus neun Jahrhunderten“

Von Stephan KrauseRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stephan Krause

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Karl Dedecius, der – beinahe schon sprichwörtliche – „Europäer aus Łódź“ feierte in diesem Mai seinen 90. Geburtstag. Dass er auf dem von ihm wie von keinem anderen bearbeiteten, gepflegten und vor allem auch erforschten Gebiet der polnischen Literatur und ihrer Übersetzung ins Deutsche und damit ihrer Vermittlung an einen deutschsprachigen Leserkreis noch immer, auch im hohen Alter, unermüdlich und vielleicht gar uneingeholt ist, zeigt die nun vorliegende Anthologie „Meine polnische Bibliothek. Literatur aus neun Jahrhunderten.“

Die Anthologie ist ein publizistisches und ansehnliches Geburtstagsgeschenk, das Dedecius sich selbst und vor allem den Lesern macht. Die persönlich gehaltene Titelwahl und vor allem die Auswahl selbst lassen dabei den Kenner, Freund und Liebhaber der ‚literatury polskiej‘ erkennen. So ist der Band zugleich ein neuerliches Angebot des ‚Altmeisters‘ der Übertragung polnischer Literatur und zeigt eine – vielleicht auch die Person Dedecius spiegelnde – individuelle Auswahl an Texten. Seit dem vergangenen Jahr Träger des Deutschen Nationalpreises, legt Dedecius mit dieser Anthologie nicht bloß eine weitere Auswahl vor – wie wäre die auch nach insgesamt 50 Bänden „Polnischer Bibliothek“ (1982-2000) zu denken – sondern belegt eindrucksvoll, was sich in der Begründung zur Verleihung des Nationalpreises folgendermaßen liest: „Karl Dedecius hat sich durch sein gesamtes Lebenswerk als Brückenbauer zwischen Polen und Deutschland verdient gemacht, indem er den Deutschen den Zugang zu polnischer Kultur ermöglicht hat.“

Der Band unternimmt so für den und mit dem Leser einen inspirativen, beziehungsreichen Rundgang durch die polnische Literatur. Angefangen vom Mittelalter bis in die 1990er-Jahre, der voller Entdeckungen und Wiederbegegnungen steckt. Der Band bietet einen solchen Rundblick in der polnischen Literatur und nimmt darin eine wohltuend übersichtliche, große Einteilung in historische beziehungsweise literaturgeschichtliche Epochen und Zeitabschnitte vor. Dies schafft nicht nur Orientierung, sondern erlaubt es zudem gezielt – klassische und gerade auch weniger klassische, dadurch jedoch nicht minder spannende – Stellvertreter in den einzelnen Perioden aufzufinden. ‚Literatur‘ meint für Dedecius hier – wie bereits in seinen zahlreichen vorhergehenden Publikationen – nicht allein belletristische Texte, die durch ihren ästhetischen oder literarhistorischen oder kanonischen Stellenwert herausstehen, sondern schließt ganz ausdrücklich auch historisch dokumentarische Texte mit ein.

So findet sich etwa im Abschnitt II ‚Renaissance‘ ein gegenreformatorisches Pamphlet von Stanisław Orzechowski oder im Kapitel IV ‚Aufklärung‘ ein Auszug aus der polnischen Mai-Verfassung von 1791 sowie zwei Texte des 1970 emigrierten Philosophen Leszek Kołakowski (IX ‚Nach dem Krieg‘). Natürlich aber sind eben auch weithin bekannte Vertreterinnen und Vertreter der polnischen Literatur mit ihren Texten zu finden, im 20. Jahrhundert zum Beispiel die Nobelpreisträger Wisława Szymborska und Czesław Miłosz oder Zbigniew Herbert und Tadeusz Różewicz, und es fehlen natürlich weder Mickiewicz noch Słowacki oder Sienkiewicz. Nicht zu vergessen sind über die Texte hinaus, das kenntnisreiche Vorwort von Stefanie Peter sowie Karl Dedecius’ Nachwort und der – bei Dedecius angenehmer Standard – detaillierte Apparat, der etwa eine biografische Übersicht zu jedem Autor bietet.

Dedecius, so ließe sich wohl im Überblick über diesen Band sagen, wählt eigentlich nicht aus einem Fundus von Texten aus, sondern ordnet Texte wissentlich und zum Teil absichtlich pointiert an und vermittelt so wiederum und wiederum mit jenem sanften Gestus kenntnisreicher Aufforderung, dass die Lektüre der polnischen Literatur im positiven Sinne unumgänglich ist. Mithin ist Dedecius’ ‚mein‘ im Titel durchaus auch ein Wort, das sich die hoffentlich zahlreichen Leser des Bandes als vielfältigen literarischen und historischen und kulturellen Zugewinn zu Eigen machen werden.

Titelbild

Karl Dedecius (Hg.): Meine polnische Bibliothek. Literatur aus neun Jahrhunderten.
Mit einem Vorwort von Stefanie Peter.
Übersetzt aus dem Polnischen von Karl Dedecius.
Insel Verlag, Berlin 2011.
470 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-13: 9783458174998

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