Der Basilisk

Über Heike Delitz’ Einführung in das soziologische Werk Arnold Gehlens

Von Cathrin NielsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Cathrin Nielsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Arnold Gehlen zählt zu den großen konservativen Klassikern der philosophischen Anthropologie und Soziologie. Sein kühler „Basiliskenblick“, seine ätzende Kritik an der modernen Subjektivität und sein Pessimismus haben dazu geführt, dass er aus Gründen, die nur selten das Niveau seiner Einsichten erreichen, eher Ablehnung erfuhr oder doch zumindest wenig in der erforderlichen sachlichen Kühle, ja Strenge rezipiert wurde. Mit Heike Delitz’ kompakter Einführung in das Werk Gehlens, die den Schwerpunkt auf sein soziologisches Potenzial legt und seine eher „frankophile“ als „deutsche“ Theorieanlage herausarbeitet, liegt nun eine solche vorurteilslose, wenn auch alles andere als unbeteiligte Aufnahme dieses ebenso bestechenden wie kontroversen Ansatzes vor. Hier begegnen wir keinem „Vulgär-Gehlen“, keinem „schnell verstandenen, schnell abgestellten Gehlen“, sondern dem komplexen Denker einer „Anthropo-Soziologie“, der keine Scheu vor dem Paradox und der Vieldeutigkeit hegt, und der mit seiner Kernthese vom Kulturwesen Mensch in einen fruchtbaren Disput nicht zuletzt mit den gegenwärtig avancierenden Biowissenschaften zu treten vermag.

Gehlen geht nämlich davon aus, dass es eine vorkulturell fassbare menschliche Natur nicht gibt: Der Mensch bekommt sich nur über ein Nichtmenschliches hinweg zu fassen. In dieser Grundeinsicht ist der eine große Gedanke verdichtet, der ihn von seinen philosophischen Anfängen bei Hans Driesch bis zu seinem später explizit „empirischen“ Ausgang von der „Handlung“ und der hierin fundierten Intellektuellen-Kritik der 1960er-Jahre beschäftigen sollte: der, so Delitz, von der „Selbsthumanisierung des Menschen in seinen sozialen Formungen, den Institutionen“. Im Gegensatz zum Tier nämlich ist der Mensch nach Gehlen von einer einzigartigen biologischen Mittellosigkeit und daher ein riskiertes Wesen mit einer „konstitutionellen Chance, zu verunglücken“. Sie erzwingt, dass er zu sich Stellung nehmen muss: „zu den eigenen wahrgenommenen Antrieben und Eigenschaften – aber auch zu seinesgleichen, zu anderen Menschen, denn auch deren Behandlung wird davon abhängen, für was man sie hält, und für was man sich hält“ (Gehlen). In der so bis ins Vegetative hinein ‚unfestgestellten‘ Biologie des Menschen liegt nach Gehlen gerade seine ontologische Dignität, und aus ihr erwächst auch die Frage, wie ein so ‚monströses‘, von sich her formloses und versehrbares Wesen überhaupt lebensfähig ist.

Die erste Ausformulierung dieser Einsicht findet sich in dem Buch „Der Mensch“ (1940), dem durch eine ganze Reihe von Aufsätzen vorgearbeitet wurde. Hier werden die zentralen Leitmotive entfaltet, wie das von der Instinkt-Entbundenheit des Menschen und seiner daraus folgenden überschießenden Potenzialität, der die lange, ja im Grunde bis zuletzt unabgeschlossene „Reifezeit“ des Menschen geschuldet ist, seine Not, sich „Außenhalte“ zu schaffen, um sich durch sie zu kanalisieren, aber auch seine Fähigkeit, sich in der Fantasie bewegen zu können und damit jene spezifischen kulturellen Leistungen hervorzubringen, deren das Tier nicht fähig ist (Fantasie als das, was den Menschen unaufhörlich „in die Zukunft stößt“).

Weiterhin die Verankerung des Bewusstseins im Handeln als der Bedingung der menschlichen Realität überhaupt, und damit die Abwendung von einem cartesianischen Subjekt-Objekt-Dualismus, den Gehlen im Sinne eines „neuen Empirismus“ in eine Innen und Außen zusammenschließende Perspektive wenden will. Die Entdeckung einer Philosophie vom Leibe aus, die auf Schopenhauer zurückgeht, erlaubt es ihm, den Handlungsvollzug im Sinne einer Verschränkung von Kognitivem, Affektivem und Motorisch-Sensitivem geltend zu machen, der in „psychophysisch neutralen Kategorien“ zu fassen ist, also in Kategorien, die das Geistproblem von Anfang an einklammern, und zwar bis in die Sprachtheorie. Im Zentrum steht dabei der Begriff der „Entlastung“, der auf den konstitutionellen Antriebsüberschuss des Menschen zurückweist und ihm zu jenem gesicherten Hintergrund verhelfen soll, vor dem sich allererst eine gerichtete Tätigkeit abspielen kann. Immer geht es darum, sich in Form zu bringen, nicht im Sinne einer tendenziell endlosen (und darin leeren) fitness, wie uns heute allenthalben nahegelegt wird, sondern als Antwort auf die Nichtfestgestelltheit des Menschen, die die Basis sowohl für seine innere Ausartungsbereitschaft wie für seine diffizilen kulturellen Leistungen darstellt: „Vom ‚aufrechten Gang bis zur Moral‘ gibt es einen Zusammenhang“ (Gehlen).

„Urmensch und Spätkultur“ (1956), das Gehlen zunächst einfach „Der Mensch II“ nennen wollte, legt die sozialtheoretische Entfaltung dieser Anthropologie vor. Hier wird das große Thema der Institutionen entfaltet, deren Vitalprinzip die idée directrice ist, die, wie es in Anlehnung an Maurice Hariou heißt, „sich durch Generationen hindurch ziehende, affektive Idee, die Bewegung des Sozialen ‚in‘ den Einzelnen“, die zugleich der symbolischen Verkörperung bedarf. Ihr entspringt ein Gefühl der Verpflichtung, das nicht einfach einer repressiven Übermacht geschuldet ist (wie man Gehlen gerne unterstellt), sondern es dem Menschen ermöglicht, sich entäußernd und somit indirekt, vermittelt über seine eigenen Schöpfungen zu verstehen.

Der entscheidende Punkt ist dabei, dass diese Schöpfungen nicht utilitaristisch oder rationalistisch verkürzt, also etwa aus Kosten-Nutzen-Kalkulationen oder Vertrags-Konstruktionen erklärt werden; ihre Entfaltung geht vielmehr mit einer „Suspendierung aller […] Funktonalitätserwägungen“ einher: „Die Entstehung der Institutionen ist zu modellieren als Emergenzgeschehen, ereignishaft und affektiv.

Institutionen haben, wie Gehlen sagt, einen ‚Selbstwert im Dasein’. Man handelt von ihnen her.“ Institutionen sind somit nicht einfach Zweckgebilde, denen wir uns unter Beiseitestellung aller affektiven Komponenten ‚rational‘ unterwerfen, sondern müssen als „stabilisierte Affektspannung“ verstanden werden, als Stabilisierung der Spannung durch eine Entscheidung zu dem, was sie verursachte. „Die ‚stabilisierte Spannung‘ ist Gehlen zufolge die Art und Weise, in der Affekte ‚soziabel‘ werden können“, und hält man sich, wie Delitz betont, vor Augen, „dass die Soziologie sich eher schwer tut, den Körper, das Leben, die Affekte in ihre Denkgrundlagen einzubauen, dann ist diese Sozialtheorie in Urmensch und Spätkultur ein bemerkenswerter Beitrag zur soziologischen Theoriebildung.“

Weiterhin unterscheide sich Gehlens Ansatz gegenüber anderen Soziologien darin, dass er eine „Technik- und Artefaktsoziologie“ enthält und damit die „faktische Symbiose von Dingen und Akteuren im Sozialen“ mit einbezieht. Dabei stehen stets die Eigendynamik und das Eigengewicht der Dinge im Vordergrund beziehungsweise das uninteressiert praktische Verhalten, dem es nicht um Instrumentalisierung geht, sondern um die Sache in ihrem Eigenwert und der hier gelegenen Aufforderung, eine entsprechende, von der Sache selbst aufgerufene innere Haltung zu stabilisieren. Hiervon ist, so Gehlen, nichts weniger als „die gesamte Kooperation einer Gesellschaft abhängig“. Das Entscheidende an dieser Theorie der Institution ist somit „der Gedanke der a-rationalen Gründung des Sozialen“. Nicht durch zweckrationale Handlungen, nicht durch Verträge, nicht durch eine Theorie der rationalen Wahl ist das Soziale erklärbar, sondern allem voran durch „das Eigengewicht der selbst gemachten Sachen: der Kulte und ihrer Verpflichtungen, womit sich der Mensch zum Menschen macht“. Damit erweist sich Gehlens Ansatz, so Delitz, als „soziologische Handlungstheorie, die nicht soziozentrisch verfährt; anders als andere soziologische Theorien schließt sie die Dinge, Tiere und Götter nicht aus der sozialen Welt aus.“

Die letzte Quelle dieser tätigen Selbstformung des Menschen bleibt dabei für Gehlen „jenes absubjektive, überschüssige, arationale Energiezentrum Nietzsches“, jene Tendenz zu ‚mehr Leben‘, die „Annahme überschüssiger, nicht in der Nützlichkeit und unmittelbaren Lebensfristung aufgehender Energien“, die Gehlen, wie Delitz festhält, „unter den soziologischen Autoren zu einem der wenigen ‚Lebenssoziologen‘ macht“, einem Denker, der „die energetischen Antriebe des Organismus in die Erklärung des Sozialen einbezieht“. Sie stehen nicht nur am Beginn seiner Theorie, verborgen in der allzu leicht eingängigen These vom ‚Mängelwesen Mensch‘, sondern begründen zugleich seine kulturelle Variabilität, einschließlich seiner konstitutionellen Fähigkeit zum Neuen, zum Anderen, zu dem, was Robert Musil den „Möglichkeitssinn“ genannt hat.

Von hier aus formuliert Gehlen auch seine Diagnose der modernen Gesellschaft, in der der Verpflichtungscharakter verloren geht, und damit die Etablierung von sozialen Eigenräumen, Eigenzeiten und Eigengeschichten. Das spezifisch technische Welt- und Selbstverhältnis der „Spätkultur“ ersetzt das Symbolische der Institutionen, die in dieser Hinsicht stets „Mehr-als-Zweck-Institute“ waren, durch instrumentelle Gebilde, die sich allein durch ihre Funktion zu rechtfertigen haben. Der auf diese Weise auf sich selbst zurückgeworfene, ungebundene Antriebsüberschuss des modernen Menschen ergeht sich als „frei flottierende Subjektivität“; ihr geht es nicht um eine Disziplinierung und Formgebung, sondern um ein „ständiges Anders-Werden“, wenn auch auf stationärer Basis. Denn die die Industriegesellschaft kennzeichnenden „Superstrukturen“ von Wissenschaft und Technik haben den Umkreis festgezurrt, in dem sich die Variabilität ein Gesicht geben kann: Ideengeschichtlich, so Gehlen, ist „nichts mehr zu erwarten“. Der Mensch befinde sich heute vielmehr im Zustand einer „Fossilierung im Modus der Beweglichkeit“.

Man muss Gehlens pessimistische Gegenwartsdiagnose nicht unbedingt zum Ausgangspunkt seiner Lektüre nehmen, worauf auch Delitz verzichtet, ohne zu verhehlen, dass die Stränge eben doch zusammenhängen. Aber sie hat viel zu viele Augen und Aufmerksamkeiten für die Komplexität dieses Werkes, um sich hier festzuhalten, wie man überhaupt den Eindruck gewinnt, als wolle die Autorin nach dieser ersten, überaus instruktiven und klugen Einführung erst ganz loslegen. Es ist kein Buch der schnellen Antworten, sondern, wie es einer Einführung im besten Sinne ansteht, ein Buch der Hinweise, Umrisse, Engführungen und Verknüpfungen, ein Buch, dass einen mit dem freundlichen Imperativ entlässt, nun mit der eigentlichen Arbeit zu beginnen, dem Selbstlesen. Keine Rekapitulationskästchen, Abhaklisten oder Merksätze, aber auch keine ideologischen Glaubenskämpfe nehmen uns bei der Hand, sondern eine Autorin, die das Selbstbewusstsein hat, auf den pluralis scientiae zu verzichten, die mit „ich“ argumentiert und darin über einen enormen, einen überbordenden Wissensfundus verfügt.

Titelbild

Heike Delitz: Arnold Gehlen.
UVK Verlagsgesellschaft, Konstanz 2011.
152 Seiten, 14,90 EUR.
ISBN-13: 9783867640572

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