Die Siesta geht weiter

Thierry Paquot erzählt die „Geschichte des Mittagsschlafs“ in verschiedenen Mythen und Kulturen

Von Katja HachenbergRSS-Newsfeed neuer Artikel von Katja Hachenberg

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Die Siesta ist nicht nur ein Mehr, sondern das Bessere. Sie ist wesentlicher Bestandteil eines Schutzes der Existenz, zu dem wir verpflichtet sind“, schreibt Thierry Paquot in seinem Buch „Die Kunst des Mittagsschlafs“. In acht Kapiteln beleuchtet der Philosoph, Professor und Herausgeber der Zeitschrift „Urbanisme“ Thierry Paquot Phänomen und Historie des Mittagsschlafs. Die Siesta, heißt es zu Beginn, ist mehr als ein heiteres Dämmern – sie ist ein Moment der Ruhe, der Wollust und ein Akt des Widerstands, gefeiert in Kunst und Literatur. Denn: Wer mittags schläft, entzieht sich der Fremdbestimmung, widersetzt sich den Rhythmen der Arbeitswelt und der Produktivitätsmoral. Siesta, so der Tenor des schlanken Büchleins, ist Individualität, ist Luxus.

Im Jahr 1998 unter dem Titel „L’Art de la sieste“ im Verlag Zulma erschienen, stellt „Die Kunst des Mittagsschlafs“ eine Neuauflage in der Übersetzung Sabine Dzucks und Melanie Heusels dar. Erschienen ist das Bändchen im Göttinger Steidl Verlag, genauer: bei L.S.D. Warum LSD? Die Lektüre, so bemerkt Karl Lagerfeld im Steidl-Verlagsprogramm Herbst 2011, sei „eine wunderbare Droge, für die es Gott sei Dank keine Entziehungskur gibt, wenn man abhängig davon wird… […] Muss denn aber gleich ein Verlag den Namen einer so gefährlichen Droge tragen? Warum nicht – es ist ja nur eine Abkürzung“: L für Lagerfeld, S für Steidl, D für Druckerei. Dem LSD Verlag gehe es vor allem darum, moderne englische und französische Texte dem deutschen Publikum vorzustellen und zu empfehlen, Texte, die den Leser stimulieren sollen und die aus den verschiedenen Gebieten der Literatur kommen können. Der Markt sei heute von charakterlosen Büchern überschwemmt: „Aber ich habe das Gefühl, der echte Buchhandel beginnt diese Art von Büchern langsam zu vernachlässigen. Man kann es auf jeden Fall hoffen und versuchen, bessere Texte vorzuschlagen.“

Auf gerade einmal 92 Seiten entfaltet Paquot ein facettenreiches und leuchtendes Panorama des Mittagsschlafs. In der Einleitung gibt er einen intimen Einblick in sein eigenes Siesta-Bedürfnis und nimmt seine Leser mit in diesen geschützten Raum hinein: „Langsam erhebe ich mich von meinem Schreibtisch, schalte meinen Computer aus, gehe auf mein Bett zu, streife meine Schuhe und Socken ab, ziehe meine Hose aus, stelle das Telefon und mit Bedauern die Stereoanlage ab […]. Dann lege ich mich hin, senke die Lider und höre, wie ich mir selbst ‚Schlaf gut‘ wünsche, fast unhörbar in den leeren Raum gesprochen, ein zärtliches Murmeln nur. Wenige Sekunden später habe ich die Kontrolle völlig verloren, bin ganz ‚woanders‘, im Land des Schlafes. Wie spät es ist? Fast halb zwei, früh am Nachmittag“.

Ausgehend von diesem intimen Stillleben, in das der Autor einen Schlüssellochblick gewährt, beschreibt Paquot die Siesta als den Höhepunkt einer Lebenskunst, die es verdient, verteidigt und gelebt zu werden, und zwar mit Überzeugung, Lust und Ernsthaftigkeit.

In den folgenden Kapiteln wird das persönliche, konkrete Moment des Siesta-Haltens durch Ausflüge in Kunstgeschichte, Soziologie und Philosophie, Mythologie und Historie transzendiert. Kenntnisreich und kurzweilig führt Paquot seine Leser in diese verschiedenen diskursiven Räume und sorgt mit sprachlicher Brillanz und inhaltlichem Abwechslungsreichtum dafür, dass es an keiner Stelle der Lektüre langweilig wird.

„Bilder einer Siesta“ gibt einen Überblick über das Motiv des (Mittags-)Schlafs in der Bildenden Kunst – von Domenico Zampieri über Giorgione, Caravaggio, Pieter Brueghel dem Älteren, Rubens und Rembrandt bis hin zu Gustave Courbet, Toulouse-Lautrec und Edouard Vuillard: „Unter den Händen der Maler erscheint die Siesta in einer ganzen Palette freundlicher Farben. […] Es gibt da den ockerfarbenen Mittagsschlaf, heiß und schweißtreibend, den roten, brutal, gleißend, und den jungfräulich weißen, rein und leicht. In manchem Mittagsschlaf werden Sie von Sandstürmen, von launischen Meeren und schwatzhaften Winden heimgesucht. Der bunte ist der beste. Er beruhigt und verstört zugleich. Er ist unersetzlich.“

Die Siesta stellt sich dar als freie Zeit, die einzig dem Schläfer gehört – und, so mag man hinzufügen, als freie Zeit, in der der Schläfer einzig sich selbst gehört. So wird sie zum Gegenbild zur disziplinierten, funktionalisierten und mechanisierten Zeit, der Zeit der Maschinen. Die Siesta ist emanzipatorisch, eine „Revolte gegen die Stechuhr“ und entzieht sich allen Versuchen des Controllings. Sie bindet den Schläfer zurück an natürliche Zyklen und an seine innere Uhr, versöhnt ihn mit den eigenen Rhythmen. Der bewusst vollzogene und genossene Mittagsschlaf wird so zu einem Mittel des Protests gegen entfremdete Strukturen; er ist eine Stellungnahme, er ist Politik.

Eine Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Siesta, führt Paquot aus, sei immer auch eine Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Zeitlichkeit im Allgemeinen wie mit der Zeit im Sinne von Arbeitszeit im Besonderen.

Wir „bewohnen“ die Zeit (Jean Chesneaux) und auch die Räume, in denen wir leben, sind durch Zeitlichkeit geprägt: „Inwiefern beeinflusst die Vielfalt unserer Rhythmen unser Sein im Raum? Berücksichtigen zum Beispiel Architekten und Stadtplaner die Zeit in ihren Projekten? Wie passt sich der Raum an die verschiedenen Zeitlichkeiten an, die ihn nutzen, ohne ihn zu instrumentalisieren?“, fragt sich Paquot. „Auch eine Wohnung ruht sich aus, schläft ein und wacht auf. […] Ein Haus, das Mittagsschlaf hält, atmet regelmäßig und steckt mit seiner Ruhe an. Es döst, während darum herum Lastwagen lärmen, Autos hupen, Flugzeuge brummen und Passanten vorbeieilen“.

Paquots Überlegungen zur Zeitlichkeit der Räume sehen sich gespeist aus zahlreichen von ihm veröffentlichten Büchern zur Stadtentwicklung, Architektur und über moderne Utopien. Auch die Siesta wird in Paquots Beschreibung zu einer modernen Utopie, die ein Bild der Aussöhnung mit Natürlichkeit und dem eigenen Selbst zu zeichnen vermag und aus entfremdeten Strukturen erlöst. Dabei ist allerdings vor einer Verdinglichung und arbeitstechnischen Vereinnahmung des Mittagsschlafs als eines probaten Mittels der Effizienz- und Umsatzsteigerung – so behauptet eine von Paquot zitierte Nasa-Studie aus dem Jahr 2003, dass vierzig Minuten Ruhezeit in der Mitte des Arbeitstages die Leistungen des Einzelnen um 34 Prozent steigern – zu warnen: Es geht dem Autor zufolge ja gerade darum, sich der Allgegenwart der gesellschaftlichen Mühlen selbstbewusst zu entziehen und seinen eigenen Raum, seine eigene Zeit und die Verfügungsgewalt über die eigene Zeit einzufordern: Mittagsschlaf auch als „Selbsttherapie“ in globalisierten, beschleunigten Zeiten.

In seinem Nachwort zur Neuauflage „Zehn Jahre danach“ zitiert Paquot eine Rezension Francis Mizios in der Zeitung „Libération“, die „L’Art de la sieste“ als ein „sehr ernstes und wohlbegründetes Werk zur Verteidigung einer bedrohten Lebensart“ besprach. Zur Neuauflage bemerkt „The Independent“: „Ein Tagtraum von einem Buch!“

Lesbar ist das Büchlein wunderbar in der Horizontalen, als Einleitung zum Abtauchen in die Intimität des subjektiven, geschützten Raums, als Verführung zum Träumen, als Stimulans, sich der Sinnlichkeit der Siesta hinzugeben: „Ich erinnere mich an einen chrysanthemenfarbenen Mittagsschlaf […] Ich erinnere mich an süße, musikalische, parfümierte, grenzenlose, fröhliche Siestas…“.

Angesichts all der evozierten Bilder und Farben, all der intimen Stillleben, die der Leser von Paquots Text genießen darf, sei noch ein abschließendes Wort zum „Outfit“ des Büchleins gestattet, das, in seinem schlichten Hellblau und mit der Wolkenfotografie, eher an ein Esoterik-Buch der billigeren Sorte erinnert und zur inhaltlich-stilistischen Qualität der Paquot’schen Ausführungen nicht so recht passen mag. Für eine zweite Auflage seien andere Farben empfohlen – chrysanthemenfarben? ockerfarben? rot? – und eine Abbildung, die den Blick auf eine schlafende Figur, ein Interieur, ein Innenleben, frei gibt, die einladend wirkt und die, im besten Sinne, verführt.

Titelbild

Thierry Paquot: Die Kunst des Mittagsschlafs.
Übersetzt aus dem Französischen von Sabine Dzuck.
Steidl Verlag, Göttingen 2011.
96 Seiten, 16,00 EUR.
ISBN-13: 9783869302409

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