Vom ganz Großen und Kleinen
Über Dieter Thomäs interdisziplinäres Handbuch zum „Glück“
Von Kay Ziegenbalg
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDie Menschheit produziert mit großer Ausdauer und Akribie unablässig Inkarnationen des Glücks. Man stolpert drüber, sucht und findet; verliert es wieder. Glück ist spiralförmig, kann Kleeblatt, Schwein und Schornsteinfeger sein und macht selbst vor Sternen nicht halt. Das Gefühl hat seinen Platz in Verfassungen, Hymnen und Grußformeln. Es ist Lebensaufgabe und Sinnstifter unzähliger sozialer Praktiken. Beschworen wird Glück in Ritualen – seien sie modern oder archaisch. Schaffen und Zerstören können Glücksgefühle auslösen, ebenso wie Geben und Nehmen.
Untrennbar mit dem Glück verbunden ist dieser eine Moment seiner Empfindung; der ideale Augenblick, der Faust endgültig seine Seele kostete, als er ihn nicht mehr vergehen lassen wollte. Es verwundert, wie viele Gestalten diese eine hehre Idee in praktischer Hinsicht annehmen kann; wie viele Objekte und Konstellationen Träger des Glücks sein können. Ganz zu schweigen, von kulturellen und sprachlichen Unterschieden im Glücksdenken. Glück haben heißt manchmal Überleben – ein andres Mal ist es eine Schnecke, die sich im Balkonkasten eingenistet hat und im Sonnenlicht entdeckt wird.
In der Reihe der voll und ganz selbstverständlichen Begriffe rangiert das Glück dabei gleichzeitig an erster und letzter Stelle. Selbst die größte Macht kann es nicht herbeizwingen – noch kann sie es halten. Glück ist flüchtig und der Wunsch, seiner dauerhaft habhaft zu bleiben führt in Lebenskrisen. Glücksversprechen haben die Kraft, Tod und Verderben zu wecken.
Was ist das also für eine Idee, die jedem Menschen geläufig ist, aber dabei so unfassbar vage und fragil bleibt? Man ahnt es bereits: Die Fülle an Literatur ist immens und begleitete alle Epochen der Menschheitsgeschichte. Doch für die Frage nach dem Glück gilt diese Flüchtigkeit nicht: „Hartnäckig, geradezu unverwüstlich ist das Glück“, heißt es in der Einleitung zu einem interdisziplinären Handbuch des Glücks. Herausgegeben von Dieter Thomä, Christoph Henning und Olivia Mitscherlich-Schönherr.
In acht Abteilungen werden Semantik, Systematik und Geschichte des Glücks bearbeitet, wobei der religiösen Beschäftigung mit dem Gefühl noch einmal ein gesondertes Kapitel zu Teil wird. Traditionell ist das Glück Gegenstand der Philosophie und der Religion. Die Diskurse haben sich in den letzten Jahrzehnten vor allem in Ökonomie, Psychologie und Neuro- sowie Biowissenschaften verdichtet, merken die Herausgeber an.
Und es hat sich eine ganze Reihe Experten gefunden, die diesem Handbuch zu jener Aussagekraft verhelfen, die es bei einem so großen Thema braucht, denn Glück ist „ein Menschheitsthema, das so weit ausgreift, dass man von diesem Handbuch auch sagen könnte, es müsste darin eigentlich um alles gehen, ums ‚Große Ganze‘ und auch um das Kleinste.“
Somit entsteht weit mehr als ein wissenschaftliches Handbuch. Vielmehr hat man es mit einem Kompendium der Sinnsuche zu tun, das sich daran abarbeitet, hinter Denkfiguren Motivationen aufzudecken, Grenzen und Perspektiven aufzuzeigen, die ihre gemeinsame Richtung durchaus im Begriff des Glücks finden. Darüber hinaus aber wurden reichlich Interpretationen der antiken Tradition, der Aufklärung, der Kritischen Theorie und vieler weiterer Gebiete gesammelt. Die mannigfaltigen Inkarnationen des Glücks werden aufs Vorzüglichste berücksichtigt und in durchweg gut lesbaren Texten beschrieben, hinterfragt und in den Kontext des menschlichen Denkens gestellt. Die gute Lesbarkeit der Texte liegt darin begründet, dass der Glücksforscher nicht „in künstlicher Isolation“ auftritt, sondern sich „vielmehr im Getümmel des gelebten Lebens“ bewegt.
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