Korn im Sandhaufen

Über Wolfgang Künnes Kommentar zu Gottlob Freges Logischen Untersuchungen

Von Thomas KupkaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Kupka

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Gottlob Frege war ein bedeutender deutscher Mathematiker und Logiker. Meist wird gesagt, er habe die moderne Logik überhaupt erst begründet. Und womit beschäftigen sich Logiker? Mit Logik, logisch. Aber was ist Logik? Zum Beispiel dies:

Nehmen wir die Prämisse

(1) Wie groß die Zahl n auch sein mag, wenn n Sandkörner genug sind für einen Sandhaufen, dann sind auch n-1 Körner genug.

Setzen wir dazu als ganz unbezweifelbare zweite Prämisse:

(2) 10.000 Sandkörner sind genug für einen Haufen.

Wenn wir auf (1) und (2) nun eine Subtraktion mit eins ausführen, erhalten wir:

(3) Wenn 10.000 Sandkörner genug für einen Haufen sind, dann sind auch 9.999 Körner genug.

Nun gibt es die bekannte Regel Modus ponendo ponens, nach der wir von der Prämisse Wenn A, dann B, und dem Setzen der zweiten Prämisse, dass A, auf B schließen können. Wenden wir diese Regel im vorliegenden Beispiel immer und immer wieder an und subtrahieren mit 1, so erhalten wir schließlich:

(C1) 1 Sandkorn ist genug für einen Haufen,

ja sogar:

(C0) 0 Körner sind genug für einen Sandhaufen.

Das Gute nun ist: Dafür gibt’s auch in der modernen Logik keine Lösung.

Man nennt Inferenzfolgen dieser Art (das geht natürlich auch aufsteigend, also addierend, mit den einzelnen Haaren eines Glatzkopfes) Sorites-Paradoxien. Sie entstehen aus der Unbestimmtheit (Vagheit) der beteiligten Prädikate (hier: ‚ist ein Haufen‘ oder ‚ist eine Glatze‘) durch die wir aus scheinbar wahren Prämissen und tadellosen Schlussfolgerungen falsche Resultate erhalten.

Man kann darauf auf verschiedene Weise reagieren. Frege wählte die Idee, dass die bivalente Logik auf Sorites-Paradoxien nicht anwendbar sei. Auch sei sie für die Alltagssprache nur bedingt tauglich, weshalb er die „Begriffsschrift“ (1879) erfand, eine logische Kunstsprache, mit der die logischen Untiefen und vor allem Unbestimmtheiten der natürlichen Sprache überwunden werden sollten. In deren § 27 behandelt er das Sorites-Problem. Aber nur dahingehend, dass es auch begriffsschriftlich darstellbar ist. Da wir das Problem hier angeschnitten haben, wollen wir wenigstens einen interessanten Gedanken dazu noch referieren. Und der ist von Jason Stanley: „[W]hen we look for the boundary of the extension of a vague expression in its penumbra, our very looking has the effect of changing the interpretation of the vague expression so that the boundary is not where we are looking“ (Context, Interest-Relativity, and the Sorites, in: Analysis 63 (2003), 269-281). Das ist natürlich ein eher hermeneutischer Zugang, kein logischer im strengen Sinne.

Gottlob Frege, wie gesagt, war Logiker. Er erfand den Logizismus. Das ist die Idee, dass sich die Arithmetik allein logisch begründen lässt, also ganz ohne sinnliche Anschauung, mithin analytisch, was Frege vor allem gegen Kant stellte, der die Arithmetik synthetisch verstand. Von Frege gibt es dazu die hübsche Bemerkung, Kant habe bei der Arithmetik wohl eher an das Zählen mit den Fingern gedacht (Grundlagen der Arithmetik, § 5). Bertrand Russell und Alfred North Whitehead haben in den Principia Mathematica ebenfalls versucht, die Mathematik rein logisch zu begründen. Und Rudolf Carnap versuchte das sogar für nicht-logische Gegenstände. Der Philosoph Michael Dummett schließlich hat Frege in die analytische Sprachphilosophie eingeführt

Neben seinen Hauptwerken, der „Begriffsschrift“, den „Grundlagen der Arithmetik“ (1884) und den „Grundgesetzen der Arithmetik“ (1893/1903) hat Frege verschiedene kleinere Texte publiziert. Vier davon („Der Gedanke“, „Die Verneinung“, „Gedankengefüge“, und das Fragment „Logische Allgemeinheit“) hat jetzt Wolfgang Künne neu herausgegeben und ausführlich kommentiert. Das ist soweit auch ganz gut gelungen. Gerade der Aufsatz „Der Gedanke“ spielt heute in der Sprachphilosophie eine prominente Rolle bei der Frage, ob sprachliche Bedeutung und kognitiver Gehalt sich nach Regeln vollziehen oder ob wir, dem 2003 verstorbenen amerikanischen Philosophen Donald Davidson folgend, davon ausgehen müssen, dass das nicht der Fall ist. Linguisten und Literaturwissenschaftlern stehen dabei vielleicht die Haare zu Berge, doch gibt es mittlerweile in der analytischen Philosophie eine größer werdende Gemeinde, die erforscht ob Regeln konstitutiv und normativ zugleich sein können, denn bekanntlich kann man nicht annehmen, dass bedeutungskonstitutive Regeln ihrerseits auf Regeln beruhen, ohne sich in infiniten Regressen zu verlaufen.

Bei Wolfgang Künne, obwohl (oder gerade weil?) er den „Text Seite für Seite durch[geht]“, kommen derart aktuelle Entwicklungen allerdings nicht vor. Gerade aber Freges „Gesetz im doppelten Sinne“ (einmal als sowas wie ein rechtliches Gesetz, einmal als eine Art Naturgesetz), mit dem „Der Gedanke“ beginnt, hätte eine aufmerksamere Kommentierung verdient. Nicht zuletzt liegt hier der Schlüssel zu Freges Gedankenplatonismus, nach dem Gedanken so etwas wie ontologisch selbständige Gegenstände sind, unabhängig von einem denkenden Subjekt. Zum Wahrsein eines Gedankens gehört nicht einmal, dass er je gedacht wird. Und insoweit besteht auch „die Arbeit der Wissenschaft […] nicht in einem Schaffen, sondern in einem Entdecken von wahren Gedanken“.

Es fragt sich, wie dann das Sorites-Paradox ausgehen würde. Man hätte sich also zu den versammelten Problemen durchaus auch ein paar eigene Gedanken gewünscht. Aber dafür gibt es ja jetzt den von Michael Potter und Tom Ricketts herausgegebenen „Cambridge Companion to Frege“ (2010), der hiermit allen Interessierten empfohlen sei.

Titelbild

Wolfgang Künne: Die philosophische Logik Gottlob Freges. Ein Kommentar mit den Texten des Vorworts zu Grundgesetze der Arithmetik und der Logischen Untersuchungen I - IV.
Verlag Vittorio Klostermann, Frankfurt a. M. 2010.
840 Seiten, 29,80 EUR.
ISBN-13: 9783465040620

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