Ein heißer Vorläufer des Kalten Krieges

Orlando Figes schreibt in seinem Buch „Krimkrieg. Der letzte Kreuzzug“ über den militärischen Konflikt des beginnenden Industriezeitalters der zugleich ein Kreuzzug Westeuropas gegen die Herrschaftsansprüche der russischen Orthodoxie war

Von Klaus-Jürgen BremmRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus-Jürgen Bremm

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Auseinandersetzung zwischen Ost und West reicht tatsächlich viel weiter zurück als der sogenannte Kalte Krieg von 1949 bis 1989. Schon ein Jahrhundert vor der ideologischen Konfrontation mit dem kommunistischen Block machte Westeuropa Front gegen das Zarenreich, dem Vorläufer des Sowjetimperiums, das damals der expansivste Staat der Welt war. Seit 1815 hatte sich die östliche Macht im Kaukasus und in Zentralasien innerhalb nur weniger Dekaden bis an die Peripherie des britischen Indiens ausgedehnt, und in aller Offenheit dachten russische Diplomaten und Militärs schon über die Aufteilung des zerfallenden Osmanischen Reiches nach. Nach dem Plänen Zar Nikolaus I. schien selbst die Restitution des alten griechischen Kaiserreiches in Konstantinopel – allerdings unter russischer Dominanz – nicht mehr ausgeschlossen.

Während die britische Politik noch Eingedenk ihres Afghanistan-Desasters von 1841 versuchte, den russischen Expansionismus mit den Mitteln der Diplomatie einzudämmen, geißelte eine völlig enthemmte Londoner Presse den Zaren als „Gendarm Europas“. Exilanten aus Polen und Ungarn machten in den feinen Salons ebenso Stimmung gegen das russische „Knutensystem“ wie turkophile Abenteurer vom Schlage eines David Urquhart, die offen für einen Krieg Großbritanniens gegen Russland eintraten und sogar kaukasische Rebellen mit Waffen belieferten. So eskalierte der türkisch-russische Krieg, der 1853 nach der Besetzung Rumäniens durch die Truppen des Zaren ausgebrochen war, ein halbes Jahr später zum ersten Konflikt der europäischen Großmächte seit dem Wiener Kongress von 1814/15. Seite an Seite mit seinem jahrhundertealten Erzrivalen Frankreich kämpfte das Inselreich gegen Russland, das noch 1812 zu seinen wichtigsten Verbündeten im Krieg gegen Napoleon gezählt hatte.

Genau am 42. Jahrestag des Einmarsches der Grande Armée in Moskau landeten am 12. September 1854 französische Truppen, die Napoleon III., ein leibhaftiger Neffe des kriegerischen Korsen in den Orient entsandt hatte, an der Seite ihrer britischen Verbündeten auf der Krim, um die russische Hafenstadt Sewastopol einzunehmen und somit als Basis der russischen Schwarzmeerflotte auszuschalten. Das „Vive L’impereur“ seiner neuen Alliierten dürfte für den britischen Oberbefehlshaber, Fitzroy Somerset, in der Öffentlichkeit besser bekannt als Lord Raglan, noch eine schaurige Erinnerung an den Verlust seines rechten Armes in der Schlacht von Waterloo ausgelöst haben. Der britische Historiker und in seiner Zunft (wegen seiner anonymen Online-Rezensionen) nicht unumstrittene Experte für russische Geschichte, Orlando Figes, hat nun ein historiografisches Panorama dieses fernen Krieges vorgelegt, an dem sich die beiden deutschen Vormächte Österreich und Preußen nicht direkt beteiligt hatten, und der vermutlich auch deshalb hierzulande bis heute nur geringe publizistische Resonanz erfahren hat.

So erschien die knappe Monografie des Mainzer Emeritus für Neuere und Neueste Geschichte, Winfried Baumgart, über den „Krimkrieg“ nur in ihrer englischen Originalfassung. Mit der jetzt vom Berlin Verlag herausgebrachten umfassenden Darstellung eines der mörderischsten Konflikte des 19. Jahrhunderts dürfte diese historiografische Lücke jedoch in jeder Hinsicht geschlossen sein. Wenn im Untertitel sogar von einem letzten Kreuzzug die Rede ist, handelt es sich keineswegs um eine verkaufsfördernde Maßnahme des Verlages. In einem ausführlichen Vorspann kann Figes überzeugend darlegen, dass nicht allein geopolitische Überlegungen der Auslöser des Krieges waren, sondern ebenso ideologische Ressentiments. Aber nicht der Islam war das Ziel der westlichen Aggression, sondern die russische Orthodoxie, deren Ausbreitung auf dem Balkan Klerikale und Zeitungsmacher in England noch mehr fürchteten als die jahrhundertealte religiöse Vorherrschaft der Moslems in diesem Raum. Anglikanische Geistliche im Inselreich, das sich damals gern als die moralische Speerspitze der Menschheit betrachtete, scheuten sich nicht einmal, von ihren Kanzeln herab den Islam als eine segensreiche Vormacht für das orientalische Christentum zu preisen und seine angebliche Toleranz im Gegensatz zum orthodoxen Despotismus zu loben. Liberale Politiker wie Anthony Cooper, der siebte Earl of Shaftesbury, bewerteten gar die umstrittenen Tanzimat-Reformen im Osmanischen Reich als Aufbruch der Türkei in ein Zeitalter des Fortschritts und der Toleranz.

Wer sich hier an moderne Versionen der europäischen Islamophilie erinnert fühlt, liegt wohl nicht ganz falsch. Das berüchtigte türkische Massaker an den Christen von Chios (1822), das Eugène Delacroix in einem Gemälde verewigt hatte, wurde dabei ebenso vergessen und verschwiegen wie die Tatsache, dass damals jährlich noch Hunderte von Apostaten im Osmanischen Reich nach islamischen Recht hingerichtet wurden. So also kam es, dass das modernste und technologisch fortschrittlichste Land der Welt an der Seite eines der rückständigsten und brutalsten Regime auf europäischen Boden, einer mittelalterlichen Kolonialmacht, die Dutzende von christlichen Völkern auf dem Balkan seit Jahrhunderten unterdrückte, gegen einen ehemaligen Verbündeten in den Krieg zog.

Dass jedoch die so genannte Werkbank der Welt trotz ihrer technologischen Überlegenheit kläglich an den taktischen und logistischen Anforderungen dieses ersten Krieges der Moderne scheiterte und britische Militärs noch in den Vorstellungen der Napoleonischen Kriege befangen waren, ist für Militärhistoriker nicht wirklich neu. Gleichwohl kann Figes dieses ernüchternde Bild noch mit einigen grotesken Details verfeinern: So waren zwar die britischen Rotröcke kurz vor ihrer Abfahrt mit den neuen weitreichenden Miniégewehren (es war einer der letzten Vorderlader, aber schon mit Zügen und Feldern versehen, die das Geschoss stabilisierten) ausgerüstet worden, doch eine Ausbildung daran hatten die wenigsten von ihnen mitgemacht. Erst in der Schlacht an der Alma eröffnete die Infanterie in ihrer Not, nachdem sie sich bereits in einer Reihe unsinniger Bajonettangriffe aufgerieben hatte, entgegen den Befehlen ihrer hoffnungslos überforderten Offiziere das Feuer schon auf weite Entfernung auf den Feind und brachte so die überraschten russischen Kolonnen zum Stehen.

Auch die aufreibende Belagerung von Sewastopol wäre den Alliierten erspart geblieben, wenn eine entschlossene Führung die kaum verteidigte Seefestung schon Ende September im raschen Zugriff besetzt hätte. So aber kam es zu einer fast einjährigen Belagerung der 1780 von Fürst Grigoriy Potemkin gegründeten Stadt, die auf beiden Seiten zehntausende von Soldaten das Leben kostete und damit den Krimkrieg noch vor dem Amerikanischen Bürgerkrieg zum verlustreichsten Konflikt des 19. Jahrhunderts machte.

Allein das neue Kaiserreich Frankreich verlor auf der Krim fast 100.000 Soldaten und verspürte nach der Einnahme von Sewastopol im September 1855 trotz britischen Drängens nur noch geringe Lust, den Feldzug gegen das Zarenreich fortzusetzen. Von einigen unbedeutenderen Militäraktionen abgesehen, endete der Krieg schließlich im Frühjahr 1856. Russlands erhebliche Verluste, der Tod Zar Nikolaus I. sowie ein energisches österreichisches Ultimatum brachten die Konfliktparteien schließlich an den Pariser Verhandlungstisch. Die unmittelbaren Konsequenzen dieses ersten Krieges der europäischen Großmächte nach fast 40 Jahren waren eher gering. Das Zarenreich verlor einige Gebietsstreifen an seiner Peripherie und musste der Neutralisierung des Schwarzen Meeres zustimmen. Frankreich hatte durch den Krieg an der Seite Großbritanniens endgültig das Wiener System überwunden und konnte schon drei Jahre später in Norditalien im Krieg gegen Österreich seine alte Hegemonialstellung in Europa kurzzeitig erneuern.

Der tatsächliche Gewinner des Krimkrieges aber war paradoxerweise Preußen, das – wenn auch mit Mühe – seine Neutralität hatte wahren können. Anders als Österreich, das offen auf die Seite der beiden Westmächte getreten war, hatte sich der Hohenzollernstaat damit die Gewogenheit Russlands bewahrt. Zugleich profitierte es davon, dass Großbritanniens Öffentlichkeit nach der miserablen Performance seiner Armee auf der Krim nur noch wenig Interesse an kontinentalen Auseinandersetzungen hatte. Damit war zum ersten Mal seit gut 300 Jahren Mitteleuropa vom Druck seiner Flügelmächte befreit. Der Krieg auf der Krim bahnte somit den Weg zur deutschen Einheit von 1871 unter preußischer Führung und das gedemütigte Frankreich musste ebenso wie das in seiner neuen „spendid Isolation“ verharrende Inselreich sogar noch akzeptieren, dass Russland im selben Jahr die vertraglichen Beschränkungen seiner Flotte im Schwarzen Meer einseitig aufhob.

Figes monumentaler „Krimkrieg“ ist eine historiografische Monografie in bester angelsächsischer Tradition: Klar, facettenreich und sprachlich brillant. Fraglos ein weiterer Meilenstein neben seinen beiden zuvor in Deutschland erschienenen Büchern „Tragödie eines Volkes“ und „Die Flüsterer“.

Titelbild

Orlando Figes: Krimkrieg. Der letzte Kreuzzug.
Übersetzt aus dem Englischen von Bernd Rullkötter.
Berlin Verlag, Berlin 2011.
747 Seiten, 36,00 EUR.
ISBN-13: 9783827010285

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