Das Interesse am Rassismus

Sascha Stanicic widerlegt Sarrazin

Von Kai KöhlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Köhler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Deutschland schafft sich ab“ – so betitelte der neoliberale Bundesbanker Thilo Sarrazin ein mehrhundertseitiges Buch, das von der „BILD“ und dem „Spiegel“ propagiert wurde und bald jedes zweite Schaufenster der Buchhandlungen verunzierte. Sarrazin schrieb, was beinahe jeder, der über Einwanderung nach Deutschland spricht, seit mindestens zehn Jahren auch sagt: dass es bei der Integration der Migranten und ihrer Nachkommen Probleme gibt. Das Ganze reicherte er allerdings mit kruden Spekulationen über den Zusammenhang von Rasse, Genen und Intelligenz an, die ihm prompt den Beifall der NPD eintrugen, und fügte noch einige trübe Züchtungsfantasien an, wie eine Wurfprämie für wohlverdienende Akademikerinnen, auf dass nicht der unförmige, chipsfressende und dümmliche Unterschichtenbastard den schmalen Raum besetzen möge, den zeugungswütige Islamisten dem deutschen Volk in zwei Generationen vielleicht noch lassen.

An so etwas rechnet Sarrazin allen Ernstes herum. Schließlich war er einmal Finanzsenator in Berlin und Bundesbankvorstand. Das zeichnet vielleicht fürs Leben, und so überschüttet er seine Leser mit einem ganzen Müllwageninhalt an Zahlen. Manche dieser Zahlen widersprechen sich, manche stimmen sogar, und irgendwie müssen sie letztlich verknüpft werden. Vom Unterschied zwischen Korrelation und Kausalität hat Sarrazin offenkundig noch nie etwas gehört. Zur Erinnerung, Korrelation ist: In Norddeutschland sind im Verlauf des 20. Jahrhunderts die Störche seltener geworden und ist die Geburtenrate gesunken. Kausalität: Damit sei doch bewiesen, dass die Störche die Kinder bringen.

Und gibt es beim schlechtesten Willen keine brauchbare Zahl, dann, so erklärt Sarrazin, erfinde er einfach eine: „Wenn man keine Zahl hat, muss man eine schöpfen, die in die richtige Richtung weist, und wenn sie keiner widerlegen kann, dann setze ich mich mit meiner Schätzung durch.“

Jeder andere hätte sich gefreut, ein solches Erzeugnis wenigstens bei einem Kleinverlag unterzubringen. Sarrazin hingegen publizierte bei der Deutschen Verlags-Anstalt, war in allen Medien, zeitweilig konnte man glauben, er habe mehrere Körper. Die benutzte er für die Klage, er habe einen Tabubruch begangen und werde nun von den Vertretern einer political correctness verfolgt.

Irgendwann verlor er dennoch an Aufmerksamkeit – dies freilich nicht, weil irgendeine Art von Vernunft in irgendeiner öffentlichen Debatte herrscht, sondern weil er vom neuesten zum zweitneuesten und irgendwann zum zehntneuesten Skandal herabsank. Wie häufig indessen seine Gedanken weiterhin durch Gehirne irgendwelcher Art spuken, kann man beim Blick in fast ein jedes beliebige Diskussionsforum im Internet sehen. Wenn Sascha Stanicic bereits nach relativ kurzer Zeit eine veränderte Neuauflage seines „Anti-Sarrazin“ herausgibt, entspricht das also einem aktuellen politischen Erfordernis.

Der Titel steht für die klare Haltung Stanicics. Keinen Moment spielt er eine ergebnisoffene Prüfung von Sarrazins Elaborat vor, und von Beginn an zeigt er, dass es ihm zum einen um eine Widerlegung geht. Zum anderen aber zielt er darauf, Sarrazins Buch in den aktuellen Auseinandersetzungen zu verorten und eine Gegenstrategie zu entwickeln.

Stanicic betont die Abschnitte von „Deutschland schafft sich ab“, die in der Diskussion eine eher nebensächliche Rolle spielten, nämlich Sarrazins sozialpolitische Forderungen. Dazu gehören ein Arbeitsdienst für ALG-2-Empfänger, die Kürzung von Sozialleistungen und in den Folge deutliche Lohnsenkungen gerade bei den Ärmeren. Stanicic interpretiert dies als einen „Klassenkampf von oben“. Auffällig ist, dass gerade die tatsächlichen und potentiellen Opfer der Verarmung den Aggressor bejubelten. Die Politiker der etablierten Parteien setzen zwar auch eine Sozialkürzung nach der anderen ins Werk, doch scheuen sie vor einem allzu offenkundigen Rassismus zurück – ein Staat, der in der Globalisierung erfolgreich mitkonkurrieren möchte, kann sich momentan derlei Extravaganzen nicht leisten.

Bei vielen derjenigen hingegen, die sich – nicht ohne Grund – davor fürchten, dass Globalisierung für sie vor allem ein schlechteres Leben bedeutet, kommt Rassismus durchaus an. Stanicic arbeitet dessen soziale Funktion heraus: die Arbeiter entlang ethnischer Grenzen zu spalten und sie auf diese Weise politisch zu schwächen. Aus dieser Negativbestimmung ergibt sich, als Umkehrung, dann die politische Strategie. Gegen den Klassenkampf von oben hilft nur kollektive Gegenwehr. In einer solchen Praxis wird erfahrbar, dass die Unteren, ungeachtet religiös-ethnischer Differenzen, mehr Gemeinsames als Trennendes haben.

In sehr vielem kann man Stanicic zustimmen. Die gängige Sichtweise auf Kultur als national oder religiös bestimmt ist nur sehr eingeschränkt richtig – übernational betrachtet ist die Einteilung nach klassenspezifischen Kulturen viel überzeugender. Gegen Rassismus hilft Aufklärung nur sehr bedingt, und eine gemeinsame Praxis vermittelt weitaus mehr an Erkenntnissen – zumal wenn sie sich gegen die gesellschaftlichen Ursachen des Rassismus richtet. Angesichts der wirtschaftlichen Krisen hat man nur die Wahl zwischen sich radikalisierenden ethnisch-religiösen Kämpfen und einem Klassenkampf von unten, der die Konfliktlinien ökonomisch und nicht völkisch bestimmt. Die letztere Version ist sicherlich die bessere.

Doch mag es sein, dass Stanicic die Verankerung, die der Rassismus heute schon hat, unterschätzt. Er warnt davor, Wähler rechtspopulistischer und offen faschistischer Parteien verloren zu geben. Es ist ja auch sicher so, dass sich nicht jeder Anhänger der „Republikaner“ einen neuen Hitler wünscht. Doch wer die NPD wählt, die keinerlei Abgrenzung zu rechtsradikalen Gewalthorden vorrnimmt, dürfte für eine Politik wie die Stanicics verloren sein. Auch bedeutet gemeinsame Praxis, so wichtig sie ist, nicht schon Widerlegung von Rassismen. Vielmehr dürfte häufig im Bewusstsein eine Relativierung ablaufen: Der Ali, mit dem man zusammen gestreikt hat, mag ja ein netter Kerl sein, aber die Türken insgesamt, na ja: zum wenigsten schlagen sie ihre Kopftuchfrauen.

Stanicic verwendet viele Seiten darauf, derartige Vorurteile zu widerlegen. Tatsächlich ist die Gleichsetzung von islamisch und reaktionär oftmals falsch. Gegen die pauschale Wertung von Religionen setzt Stanicic eine historisch-gesellschaftliche Analyse. Damit hat er methodisch Recht, wie auch mit dem Hinweis, dass der Islam nicht per se zurückgeblieben ist, sondern während vieler Jahrhunderte dem christlichen Raum zivilisatorisch überlegen war.

Freilich ist das Mittelalter vergangen, und in der Neuzeit fielen die islamischen Gesellschaften erst in ihrer Entwicklung zurück, um dann über Ölprofite die Herrschenden zu Rentiers und ihre Untertanen – wenigstens in manchen Ländern – zu Gewinnern zweiter Ordnung zu machen. Dabei verhindert der Fluch der Rohstoffe eine echte Modernisierung, zu der gleichzeitig erweiterte Bildung und eine effektive und globalisierte Arbeitswelt für die Einheimischen gehörten. Wer einfach nur Öl abfüllt und verschifft, kann fatalerweise meinen, dass ein niedriger Bildungsstand genüge.

Der Erkenntnis der tatsächlichen sozialen Lage sind damit enge Grenzen gesetzt. Stanicics Forderung, im In- und Ausland Fragen der Religion zu vernachlässigen und gemeinsam gegen die Ausbeutung zu kämpfen, ist zwar häufig nützlich. Sie kann aber auch dazu verführen, dass man nicht mehr begreift, wie tief religiöse Denkmuster im Bewusstsein der Handelnden verankert sind. Der schlimmste Fall tritt ein, wenn Islamisten die Staatsgewalt übernehmen. Dann werden die Linken regelmäßig verfolgt, häufig werden sie ermordet. Man möchte nicht als Kommunist im Iran leben, und auch nicht unter dem Regime der von manchen Antiimperialisten hochgejubelten Hamas-Banden.

Freilich muss man Stanicic zugestehen, dass er an diesem Punkt genauer hinsieht und nicht alle Krieger gegen den Westen lobt. Doch ist seine Unterscheidung zwischen einem rechten und einem linken politischen Islam fragwürdig. Wahrscheinlich bestimmen die westlichen Regierungen ihre Interessenlage präziser, wenn sie, aus ökonomischen Gründen, ein nicht-islamistisches Regime wie das in Libyen wegbomben. Es ist heute schwer vorstellbar, dass Religion irgendwo auf der Welt eine fortschrittliche Rolle einnimmt.

Abgesehen von dieser Schwäche liegt mit dem „Anti-Sarrazin“ ein nützliches Buch vor. Stanicic widerlegt überzeugend die Thesen des Populisten und bestimmt ihre soziale Funktion, die Verlierer der gesellschaftlichen Umgestaltungen entlang behaupteter religiöser, nationaler und rassischer Grenzen zu spalten. In dieser Lage helfen keine multikulturellen Beteuerungen, sondern nur Kämpfe gegen die herrschenden Eliten, die „Reformen“ durchsetzen, die allein ihren Interessen dienen. Nur dieser Widerstand, so macht Stanicic deutlich, kann die Ursachen von Rassismus und Nationalismus beseitigen.

Titelbild

Sascha Stanicic: Anti-Sarrazin. Argumente gegen Rassismus, Islamfeindlichkeit und Sozialdarwinismus.
PapyRossa Verlag, Köln 2011.
168 Seiten, 11,90 EUR.
ISBN-13: 9783894384777

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