Sprachlosigkeit in Schwäbisch-Mesopotamien

Arnold Stadlers Geschichten „New York machen wir das nächste Mal“ sind Zeugnisse einer außergewöhnlich bildkräftigen Sprache

Von Gunter IrmlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Gunter Irmler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Von der unstillbaren Glückssehnsucht der Menschen in der süddeutschen Landschaft zeugen die poetisch hoch aufgeladenen neuen Geschichten, die Arnold Stadler unter dem Titel „New York machen wir das nächste Mal. Geschichten aus dem Zweitstromland“ publiziert hat. Es sind Erinnerungen des Erzählers an die Kindheit in der Enge der Provinz „Schwäbisch-Mesopotamiens“ – wie Arnold Stadler spöttisch seinen eigenen Kindheitsort nennt. Der Autor, geboren 1954 in Meßkirch, lebt seit 1995 wieder bei Sauldorf, wo er auch aufgewachsen ist, und im Wendland. Er studierte Katholische Theologie und Literaturwissenschaft und erhielt viele Preise – unter anderem den Georg-Büchner-Preis. Aber stets sind seine Erinnerungen schmerzhaft – vor allem, wenn es um die Liebe geht. Stadler zeigt uns die Wunde: „Es tat weh. Das war bei jedem so, der es wirklich versuchte, sich an seine Vergangenheit genau zu erinnern.“

Es ist die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg – die 1950-er und 1960-er Jahre. Figuren aus Stadlers früheren Werken – wie Roland, Jim oder Rosemarie – sind wieder mit dabei. Und was da erzählt wird, mutet anachronistisch an. „Die Geschichten spielen in einem anderen Jahrtausend“, schreibt der Autor. Den Figuren bleibt nur, aus der schmerzlichen kollektiven Erfahrung des Kriegs in den Konsumismus des Wirtschaftswunders zu fliehen. In die damals so schlagwortartig wie ironisch betitelte „Fresswelle“.

Und so träumen sie auch alle vom Leben und vom Meer, vom Fernsehen und von Amerika. Wie in der Titel gebenden Erzählung „New York machen wir das nächste Mal“: Da, am Rande New Yorks, sind der Vater und sein Vetter Pino nach einer langen Reise im Auto mit den Kindern endlich in der Stadt der Träume angekommen. Die Kinder sind erpicht darauf, die so unvergleichliche Stadt zu erleben. Doch jäh zerplatzt der lang gehegte Traum in der Realität. Denn völlig unerwartet beginnt sogleich nach der Ankunft die Heimreise. Die Enttäuschung ist groß: „Also war die Sehnsucht“ danach „bald größer als das Empire State Building.“

Schmerz und Sehnsucht sind auch Leitmotive in der Zweisamkeit. So leben die Paare, von denen wir erfahren, in einem Gehege der Sprachlosigkeit. „Meine Frau und ich: Wir sind zwei, von denen ich nur die eine Hälfte kenne.“ Ob wir die Fremdheit zu zweit erleben oder das Leben alleine fristen – Haltlosigkeit bleibt nicht aus: „Ach, wie sie paarweise oder nicht, durchs Leben schlitterten, übers Meer, und wie ihr Leben mit ihrem Sterben zusammenfiel. Manchmal blieb eine Geschichte übrig.“ Zwar sind Leben und Sterben bei Stadler wie zwei Seiten einer Medaille. Doch die Motive der Vergeblichkeit und des Sterbens münden stets bei ihm ins pure Vergnügen – in einen sarkastischen und zugleich befreienden, aphoristisch zugespitzten Humor.

Stadler treibt seine Methode knappster Beschreibung, des Aussparens und Andeutens bei einigen sehr kurzen Texten etwas auf die Spitze und zu sehr ins Rätselhafte. Das schmälert jedoch nicht den literarischen Rang der Mehrheit der längeren Prosatexte, die uns berühren und ergreifen. Sinnlich und klar, lakonisch und dicht sind sie großartige Zeugnisse einer außergewöhnlich bildkräftigen Sprache.

Titelbild

Arnold Stadler: New York machen wir das nächste Mal. Geschichten aus dem Zweistromland.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2011.
220 Seiten, 17,95 EUR.
ISBN-13: 9783100751379

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