Die große Tugend-Laster-Show

Martin Seel gelingt eine unterhaltsame philosophische Revue

Von Josef BordatRSS-Newsfeed neuer Artikel von Josef Bordat

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Tugenden und Laster: „Tu dies!“ und „Lass das!“ – Tugenden und Lasten enthalten Handlungs- beziehungsweise Unterlassungsempfehlungen in mehr oder weniger konkreter Form. Pünktlichkeit ist eine Tugend, bei der jeder schnell eine Vorstellung davon hat, wie sie zu realisieren ist. Gerechtigkeit ist auch eine Tugend, doch die Vorstellungen vom „gerechten Handeln“ gehen weit auseinander. Tugenden und Laster sind Begriffe der Individualethik, die im moralphilosophischen Diskurs seit Kant hinter den Begriff der Norm zurückgetreten und seitdem vornehmlich in der theologischen Ethik zu finden sind, in den letzten Jahrzehnten jedoch eine gewisse Renaissance erfahren, vor allem in den Arbeiten einer auf Aristoteles (und für den Bereich der katholischen Philosophie auch auf Thomas von Aquin) zurückgehenden Ethik, aber auch durch das Erstarken der nicht-akademischen Ratgeber-Philosophie der Lebenskunst, in der Konzepte wie „Glück“ und „gelungenes Leben“ praxisorientiert verhandelt werden.

Nun zeigt uns der Philosoph Martin Seel, Professor an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main, auf seine Weise die Bedeutung und die Zusammenhänge der Tugenden und Laster. Es handelt sich bei seinem Buch um eine Art Brückentext zwischen den theoretischen Arbeiten der akademischen Welt und den eher seichten Darstellungen in der philosophischen Gebrauchsliteratur. Es geht dem Autor nicht darum, sich diesen Begriffen selbst systematisch zu nähern oder sie im Lichte der Ideengeschichte zu diskutieren, sondern darum, einzelne Verhaltensweisen, die unter die Begriffe „Tugend“ beziehungsweise „Laster“ subsummierbar sind, exemplarisch vorzustellen. Er nennt dies eine „Revue“, in der Primär- und Sekundärtugenden, weltliche und christliche Tugenden, kleine und große Laster gleichberechtigt in der Chorus Line das Tanzbein schwingen.

Damit dies nicht zu Irritationen führt (Motto: „Pünktlichkeit ist ähnlich bedeutend wie Gerechtigkeit, eine Tugend eben!“), setzt die Lektüre gewisse Kenntnis zur Einordnung der behandelten Phänomene voraus, auch wenn es, wie der Autor im Vorwort klarstellt, „hier nichts Harmloses gibt“, da „Tugenden und Laster auch da miteinander verstrickt“ seien, wo sie „in der Bewertung unseres Tuns und Lassens einen eindeutigen Unterschied machen“. Es geht Seel um die Beziehungen der Tugenden und Laster, er webt einen Tugendteppich, in dem alles mit allem verbunden ist. Dennoch lassen sich die knappen Darstellungen der 111 Tugenden und Laster jeweils auch für sich lesen. Damit das Publikum mit den Einzeltexten und den Fallbeispielen nicht allein gelassen wird und in der Deutung ganz auf sich gestellt ist, gibt es einen Theorieteil, den man am besten zuvor liest, obwohl er als erweiterter Anhang erscheint, damit es nicht zu den oben beschriebenen Irritationen kommt.

Die Darstellung der 111 Tugenden und Laster ist indes sehr gelungen. Die kurzen Texte sind unterhaltsam und informativ. Selten braucht Seel mehr als zwei Seiten für seine Ausführungen, auch bei komplexeren Phänomenen wie „Glaube“ oder „Glück“. Allein die Liebe benötigt mehr Papier; der Autor unterscheidet auch noch einmal zwischen „Elternliebe“, „Selbstliebe“ und „Nächstenliebe“. Die Texte sind nicht alphabetisch, sondern thematisch geordnet, auf „Klugheit“ folgt „Dummheit“, bei der „Freiheit“ befindet sich der „Fatalismus“ gleich in der Nähe und „Eitelkeit“, „Würde“, „Selbstachtung“, „Stolz“ und „Arroganz“ bilden ein zusammenhängendes Tugend-Laster-Feld.

Auch verdeutlicht Seel mit dieser Kontextualisierung das, was Aristoteles meinte, als er sagte: „Tugenden sind Laster, die ihr Schlimmstes nicht ausleben; Laster sind Tugenden, die ihr Bestes versäumen.“ Will heißen: Tugend- und Lasterhaftigkeit liegen oft eng beieinander. Nuancen können den Ausschlag in die eine oder andere Richtung geben. „Humor“ zu haben, ist eine Tugend, „Albernheit“ hingegen ein Laster. Die Tugend der Liebe umfasst die „Selbstliebe“, doch droht diese bei Übertreibung ins Lasterhafte abzugleiten: „Narzissmus“. Und wie oft schon mussten wir erkennen, dass es ein echter Balanceakt ist, das Austarieren einer Position zwischen „Nüchternheit“ und „Langeweile“. Der Autor stellt diese verfehdete Verwandtschaft von Tugend und Laster gekonnt zur Schau und macht damit schließlich auch deutlich, dass es in der Moral immer um den Ausgleich zwischen Eigen- und Fremdinteresse, zwischen dem Glück des Einzelnen und dem Wohl der Gemeinschaft geht.

Martin Seel gelingt eine unterhaltsame philosophische Revue, eine Show, die sich zur Ethik verhält wie eine Romanverfilmung zum Buch: Das Wesentliche vermittelt auch der Kinobesuch, für die Feinheiten reicht er nicht hin.

Titelbild

Martin Seel: 111 Tugenden, 111 Laster. Eine philosophische Revue.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2011.
285 Seiten, 18,95 EUR.
ISBN-13: 9783100710116

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