Give me that Old Time Constructivism!

Bernhard Pörksen stellt „Schlüsselwerke des Konstruktivismus“ vor

Von Willem WarneckeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Willem Warnecke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Bernhard Pörksen vereint in dem von ihm herausgegebenen Band „Schlüsselwerke des Konstruktivismus“ Texte zu „Vorläufern und Bezugstheorien“, „Grundlagen und Konzepten“ sowie „Anwendung und Nutzbarmachung“ desselben. Als ‚Schlüsselwerk‘ gilt ihm dabei „in der Regel ein Buch, das den Diskurs mehr oder minder stark geprägt und das eine gewisse Wirkung entfaltet hat bzw. eine besondere Bedeutung besitzt“. Nach Pörksens Einleitung werden im zweiten Abschnitt sieben Werke von Autoren besprochen, die als Vordenker des Konstruktivismus identifiziert wurden – von Immanuel Kant über Ludwik Fleck bis Jean Piaget. Im dritten Abschnitt geht es um 17 (zumeist) einschlägige Klassiker von etwa Ernst von Glasersfeld, Heinz von Foerster, Paul Watzlawick, Humberto Maturana, Francisco Varela, Wilhelm Kamlah, Paul Lorenzen und Niklas Luhmann. Der vierte Abschnitt schließlich thematisiert, wie diese und die daran anschließenden Debatten unter anderem Kommunikations- und Medienwissenschaft, Pädagogik, Management und Literaturwissenschaft beeinflusst hätten.

Schon das Einleitungskapitel schwelgt dabei geradezu in der Glorie der „konstruktivistischen Idee“ und feiert insbesondere den Aspekt ihrer Selbstreferenzialität und ihres „Interesse[s] an zirkulären und paradoxen Denkfiguren“. Es feiert – im Sinne Wittgensteins – dabei jedoch gerade auch die Sprache selbst. Etwa dann, wenn Pörksen sich, vermutlich just wegen des genannten Interesses, in selbstbezüglichen Formulierungen der altbekannten (und leider allzu oft bemühten) konstruktivistischen Machart verliert – die trotz ihres rhetorischen ‚Sexappeals‘ und bei aller Sympathie zu den fraglichen Ansätzen letztlich doch als unsinnig bezeichnet werden müssen: Bei Thesen wie zum Beispiel „Jedes Sehen ist gleichzeitig blind“ wird immerhin das falsche Subjekt bemüht, denn das abstrakte Sehen ist weder blind noch kann es sehen.

In einer Einleitung mag solch nostalgische Verspieltheit noch passabel sein, doch leider findet sie sich auch in einigen der folgenden Aufsätze wieder. Zum einen ist im Hinblick auf die in den Texten zum Ausdruck gebrachte Hochachtung vor den besprochenen ‚Schlüsselwerken‘ und ihren Autoren mitunter das Attribut ‚triefend vor‘ durchaus passend. Zum anderen ist bisweilen die Rekapitulation des jeweils besprochenen Werkes, die ja als wissenschaftliche möglichst nüchtern sein sollte, mit deplazierten Selbstoffenbarungen verquickt. So lade etwa Umberto Maturanas und Francisco Varelas „Der Baum der Erkenntnis“ „zu glücklichen Momenten des augenblicklichen Verweilens ein und zu tiefer gehenden Reflexionen von Evolutionsprozessen“. Im selben Text fänden sich außerdem „noch laufend aphoristische Schmuckstücke der besonderen Art, beispielsweise das folgende: ‚Alles, was wir tun, ist ein struktureller Tanz in der Choreographie der Koexistenz‘“.

Gerade, wenn mit dem Ausdruck ‚Schlüsselwerk‘ auf die Schlossmetapher zurückgegriffen wird, verwundert es, dass nicht sonderlich deutlich gemacht wird, was eigentlich unter ‚Konstruktivismus‘ zu verstehen sei. In der Einleitung bietet Pörksen lediglich einen – sehr losen – Definitionsvorschlag, der sich insbesondere auf eine exemplarische Nennung von sozusagen Konstruktivismusindizien stützt. Die Rede von „zentrale[n] Denkfiguren und Gemeinsamkeiten des Konstruktivismus“ [Hervorhebung W.W.] mutet da unangebracht an. In den folgenden Artikeln wird dann jeweils eine eigene Erklärung für die Klassifizierung des thematisierten Werkes als ‚konstruktivistisches Gedankengut‘ gegeben. Dies passt natürlich zu Pörksens eingangs zitierter Auffassung von ‚Schlüsselwerk‘, fehlt in dieser schließlich die Einschränkung, dass ein solches Werk auch einen positiven Bezug zur jeweiligen Denkrichtung haben sollte. Denn so wichtig Martin Luthers Schriften zweifellos für die Gegenreformation waren, als Schlüsselwerke derselben würden sie wohl kaum gelten.

Doch im vorliegenden Band werden ohne erklärende Differenzierung zum Beispiel der Radikale Konstruktivismus mit dem Erlanger Konstruktivismus zusammengeworfen. Dieser vermeintlichen Einheit wiederum werden gleichsam sowohl John Dewey als auch Benjamin Lee Whorf vorangestellt, während etwa für viele Ansätze essentielle Edmund Husserl beziehungsweise die Phänomenologie nur in Randbemerkungen einzelner Aufsätze erwähnt wird.

Zum einen wird also in entsprechenden Aufsätzen der Antirealismus der Konstruktiven (oder Operativen) Mathematik und die Methodenkritik von Kamlah und Lorenzen vorgestellt, bei denen es darum geht, eine valide Gesprächsgrundlage zu etablieren, für die nur jene ‚Objekte‘ zugelassen werden, die man nachweisbar selbst herstellen – konstruieren – kann. Zum anderen wird im Band aber auch der naturalistische Reduktionismus eines Gerhard Roth aufgegriffen: „Gehirne – so lautet meine These – können die Welt grundsätzlich nicht abbilden“.

Man muss gar nicht den alten Vorwurf des Selbstwiderspruchs – ‚Wie kann sich Ihr Gehirn da so sicher sein?‘ – hervorkramen, der gegebenenfalls von Roth zumindest partiell zurückgewiesen werden könnte. Jedoch impliziert diese Aussage auf jeden Fall auch das Postulat, dass es eben jene durch das Gehirn nicht abbildbare Welt ‚wirklich‘ gebe. Dies ist nun die Kernthese des Realismus – die andere Konstruktivismen explizit bestreiten. (Anders gesagt: Während Roth die These der Abbildbarkeit der Welt für entscheidbar und falsch hält, wäre sie etwa für Kamlah und Lorenzen sinnlos und unentscheidbar.)

Dass Roths Ansatz dennoch das Label ‚konstruktivistisch‘ erhält, wird verständlich, insofern er das obige Zitat fortsetzt mit „sie [also Gehirne; W.W.] müssen konstruktiv sein, und zwar sowohl von ihrem funktionalen Organisation als auch von ihrer Aufgabe her, nämlich ein Verhalten zu erzeugen, mit dem der Organismus in seiner Umwelt überleben kann“. Da dies aber nur noch in der – offensichtlich nicht viel aussagenden – Bezeichnung etwas gemein hat mit den vorgenannten Ansätzen, vereint Pörksen hier wohl eher Dietrich- als Schlüsselwerke für ‚den‘ Konstruktivismus: Man ist vielleicht an die Schlösser der klassischen Sparschweine erinnert, die man schon als Kind ja auch mit fast beliebigen Hilfsmitteln zu knacken vermochte.

Die Aufsätze im vierten Abschnitt, zum Konstruktivismus in verschiedenen Einzeldisziplinen, kranken verständlicherweise mitunter an just dieser ungenügenden Gegenstandskonstitution. Die Aufsätze zu den einzelnen Werken bieten – für sich genommen – ansonsten meistens eine gut zu lesende Darstellung zum jeweiligen Autor, zum Inhalt des Werkes sowie zu dessen Rezeption und Wirkung, die sicher auch alten Konstruktivismus-Hasen noch Neues über die Gute Alte Schule vermitteln kann.

Titelbild

Bernhard Pörksen (Hg.): Schlüsselwerke des Konstruktivismus.
VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2011.
588 Seiten, 59,95 EUR.
ISBN-13: 9783531171487

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch