Glücksmomente im Blau der Plastikbeutel und Eisblumen am Fenster des Karnickelstalls

Traude Bührmanns Kurzroman „durchatmen“ spürt Prozessen des Vergehens nach

Von Katja HachenbergRSS-Newsfeed neuer Artikel von Katja Hachenberg

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Ich schreibe in Bildern, in Fotografien erzähle ich Geschichten, rücke dabei den poetischen Blickwinkel in den Mittelpunkt.“ Auf weniger als 100 Seiten beschreibt die Schriftstellerin, Übersetzerin, Fotografin und Dichterin Traude Bührmann die Geschichte von Alex, der durch einen Umzug von einer geräumigen Altbauwohnung in eine kleine Wohnung in einem 50er-Jahre Bau der allgemeine Abwärtstrend ihres Lebens schmerzlich bewusst wird. Sie verlässt zunehmend ihre äußeren Strukturen und geordneten Bahnen, wird, nach dem Ende ihrer Liebesbeziehung zu Angeliki, süchtig nach Alleinsein, bricht nach und nach alle sozialen Kontakte und Beziehungen ab – bis zur vollständigen Verwahrlosung und Vereinsamung.

Ein Gedankenexperiment, das fasziniert: Was geschieht, wenn eine Person sich völlig auf sich selbst zurückzieht? Sich bewusst mehr und mehr herauslöst aus ihrem Umfeld, kaum noch spricht und sich in keiner Weise mehr eingebunden findet in ein gesellschaftliches oder familiäres Netzwerk? Was, wenn dieser Rückzugsprozess begleitet wird vom Loslassen alles Materiellen, einem Durchmustern des eigenen Besitzes, der nach und nach freigegeben wird – bis nichts mehr übrig bleibt als die nackte Existenz: „Da wo ich stehe / lasse ich meine Sachen fallen / mit dem dringenden Wunsch / zu verwahrlosen / nur nackte Existenz sein / nur Atem“?

In unserer Zeit der Überfülle und der ständigen Verfügbarkeit, des sozialen Zwangs, dazu zu gehören, die „richtigen“ Marken zu tragen, das teuerste Auto zu fahren und die beste Immobilie zu besitzen, in unserer Zeit der absoluten Ästhetisierung, des Zwangs zur Schönheit und körperlichen Perfektion, wird die Protagonistin mit ihrem pink gefärbten Haarschopf à la Distelblüte zu einem Gegenbild, dem die Leserschaft eine gewisse Sympathie nicht vorenthalten kann: Alex mit dem Tintenfleck auf ihrem T-Shirt, der sich nicht herauswaschen lässt, Alex mit nicht geputzten Schuhen, abgerissenem Schnürsenkel und schiefen Absätzen.

Ihre neue Wohnung bezeichnet sie als „Karnickelstall“, niedrige Decken, Laminat statt Parkett, Erdgeschoss, Geruch der Nachkriegszeit, an dem auch die Wirtschaftswunder und Wirtschaftskrisen nichts geändert haben. Freundinnen wundern sich über Alex’ Auftreten in der Öffentlichkeit, war sie doch bis dato bekannt für ihre gepflegte Erscheinung, aufeinander abgestimmte Kleidungsstücke und Accessoires. Nun gerät sie in den Ruf, ein Messie zu sein. Mehr oder weniger unfreiwillig ist sie in eine Situation der Armut geraten: „Alex’ Arbeitsaufträge nähern sich dem Nullpunkt, bald weiß sie nicht mehr, wie sie die Miete ihres Designbüros aufbringen soll.“

Die einst vom Arbeitsamt bezahlten Umschulungen zur „Web-Designerin“ erweisen sich als „absoluter Flop“: Als zukunftsträchtig deklariert, wurden sie massenhaft und flächendeckend angeboten. Heute unterbieten sich die Kolleginnen, wenn sie überhaupt noch als Web-Designerinnen arbeiten. Alex’ Büro verwaist und sie kündigt den Mietvertrag, sie beginnt, den Tag ums Radio- und Fernsehprogramm herum zu strukturieren, raren Arbeitsaufträgen sagt sie ab. E-Mails löscht sie ungelesen, sie ignoriert Briefe und Nachrichten auf dem Anrufbeantworter. Und doch „hätte [sie] es gerne zu etwas gebracht, zumindest zu einer Wohnung, in der sie atmen kann“.

So ist der Verfallsprozess unaufhaltsam: Sie will das Abschiednehmen von ihrem Beruf, vom Leben überhaupt lernen und will die Kurzlebigkeit akzeptieren und die Vergänglichkeit zu fassen bekommen: „Es erleichtert sie, alles von sich abfallen zu lassen. Die Dinge da liegen zu lassen, wo sie hinfallen“. In ihrer Unordnung fühlt sie sich bestätigt durch das Erzähler-Ich in Ingeborg Bachmanns „Malina“: „Hier braucht sich kein Mensch auszukennen. Ich werde schon meine Gründe haben, alles immer mehr und mehr durcheinander zu bringen.“

Sie ist fasziniert von der Inszenierung des Alterungsprozesses, findet Vorbilder wie die Künstlerin, die einen verfaulenden Apfel täglich fotografierte. Ihre digitale Kamera behält sie des Löschens wegen: „Sie übt sich im Auslösen und Löschen gegenwärtiger Momente“. Zugleich verbringt sie Tage mit Eisblumen, die Heizung abgedreht, damit die Blumen so lange wie möglich blühen; in Mantel und Mütze sitzt sie vor ihnen und verfolgt ihre Verzweigungen, und je mehr sie sich in dieser ewig scheinenden Eislandschaft verliert, desto mehr geraten Kleidung, das Duschen und Kämmen in den Hintergrund. „Abgeschoben ins Altersheim kommt sie sich vor. Dabei hat sie keine Kinder, keine Verwandten, die das täten. Wer ist also dafür verantwortlich, wen kann sie anklagen? Verklagen auf Wiedergutmachung?“

Dissonanzen klingen an bei den sporadischen Begegnungen mit der Nachbarin; Alex’ Kontaktmüdigkeit wird zum wortkargen Dauerthema auf dem Treppenabsatz. Es fällt ihr immer schwerer, vollständige Sätze zu artikulieren. Mit ihrer zunehmenden Sprachlosigkeit verwahrlosen die Sätze, verkrüppeln die Worte, manchmal kommen nur noch Laute heraus. Bevor sie ein paar Worte krächzen kann, räuspert sie sich, versucht, den Frosch im Hals loszuwerden. Ihr Krächzen kommt Alex gelegen, so kann sie ihre Redeunlust mit kranken Stimmbändern oder Bronchitis erklären.

Der Aufforderung, einen Ein-Euro-Job anzunehmen, folgt Alex’ Weg auf die Parkbank. Während einer Führung durch Grabmalkunst lässt sie sich unbemerkt in einem Mausoleum einschließen: „Mausefalle, Mauseloch, mausetot, Mauseplage pulsiert es von den Wänden oder ist es ihr eigener Puls, der die Worte unaufhörlich rezitiert?“ Dann wieder sucht sie Orte mit dem weitesten Blick, nimmt den Fahrstuhl zu den Dachterrassen der Hochhäuser, der Hotels, wozu sie sich allerdings „etwas zurechtmachen“ muss: „Sauber muss Alex aussehen, sie darf nicht muffig riechen, zerrissen dürfen die Jeans sein, eine akzeptierte Kleidung auch bei den Stars, die Hyatt, Ritz und Hilton frequentieren.“

Inzwischen hat sie sich von allen Freundinnen und von ihren Geschwistern entfernt und drückt sich fast nur noch durch Gesten und Laute aus. In keiner Zugehörigkeitsgruppe fühlt sie sich mehr verwurzelt. Sie kann die Bedeutung von Ereignissen und Dingen immer weniger gewichten. Manchmal verliert sie sich im Blau der Plastikbeutel, die die Kartontürme umgeben, Souvenir einer Reise nach Santorin: „Das Blau vertreibt die Muffigkeit, bringt frische Luft in den Karnickelstall, hält Erinnerungen an Unterwasserbegegnungen wach. Mit den Meeresschildkröten schwamm Alex weit ins Meer hinaus, das versunkene Atlantis tief unter sich. Die Glücksmomente haben sich im Blau der Plastikbeutel eingenistet, knistern noch“.

Sie beginnt, Dinge zu entsorgen, und mit jedem Stück entsorgt sie ein Stück von sich selbst, eine Geschichte, von der sie sich lösen will. Sie kündigt das zum Staubfänger gewordene Telefon und lässt sich von ihrem Atem treiben: zu sich verfärbenden Bäumen, zu der Parkbank am Teich, zu den Enten und Schwänen.

Traude Bührmanns „durchatmen“ ist keine große Literatur: Sprache und Form sind sich selbst noch kein Problem, der Text ist noch nicht zu einem Bewusstsein seiner selbst gekommen, er ist völlig bei sich selbst und kennt keine Schnitte und Brüche. Es ist eine leichte Kost, mit leichter Hand geschrieben und kurzweilig zu lesen. Alex hinterlässt einen bleibenden Eindruck, eine Figur, die man so schnell nicht vergessen wird, auf der Suche, mit sich eins und uneins zugleich.

Man teilt gern ein Stück ihres Weges, spürt den Karnickelstall wie das Mausoleum, die Dachterrasse wie das Meer beinahe physisch. Die Protagonistin ist plastisch gezeichnet und damit greifbar und lebendig. Bührmanns „Kurzroman“ (ein etwas unbeholfen wirkender Gattungsbegriff) zeichnet Augenblicksbilder, Skizzen, Vergänglichkeit – und die Gespaltenheit einer Figur, die den Verfall und zugleich die Dauer sucht. „durchatmen“ zeigt eine Nischenexistenz, die, auf sich selbst zurückgeworfen, sprachlos wird, aber keinesfalls sich selbst verliert. Sie ist eine wichtige Figur „à rebours“ in der Allgegenwart des Glänzend-Glatten, Stromlinienförmigen und gesellschaftlich Gewollten, Korrekten.

Titelbild

Traude Bührmann: durchatmen. Kurzroman.
Konkursbuchverlag, Tübingen 2011.
90 Seiten, 8,00 EUR.
ISBN-13: 9783887697693

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