Gelungene Vermittlung der Natur

Das Werk der Kinderbuchautorin Anne Möller

Von Fabian KettnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Fabian Kettner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Natur- und Tierfilme haben Konjunktur. Die Natur dient oft als Demonstrations-, wenn nicht gar Projektionsfläche weltanschaulicher Konzepte. Für das wissenschaftlich verbrämte, so genannte Unterschichtenfernsehen gibt es die Natur als Sensation: die größten, stärksten und gefährlichsten Tiere – und was würde passieren, wenn sie gegeneinander kämpfen würden? Für das gehobene Publikum gibt es Natur als Ideologie: die Gesetze der Natur, denen man sich unterwerfen müsse. Das Opfer des Individuums wird gefordert und salviert.

Natur und Kinderbücher, das sind zwei prekäre Themenfelder. Bereits je für sich ziehen sie Kitsch, Falschheit und Verniedlichungen an. In den Naturkinderbüchern von Anne Möller ist Natur hübsch – aber auch hart; sie ist faszinierend – aber manchmal eben auch schrecklich, und zwar schrecklich dumm. Denn wenn ein Mauersegler versehentlich auf dem Boden landet, dann ist er verloren. Welcher „geniale Baumeister“ hat sich sowas ausgedacht? Wenn ein Rotschwänzchen (ein Singvogel) im Herbst nicht in den Süden ziehen kann, dann muss es in der mitteleuropäischen Kälte des Winters erfrieren und verhungern. Natürlich sterben die beiden Protagonisten in „Rotschwänzchen. Was machst du hier im Schnee?“ (2003) und „Die weite Reise der Mauersegler“ (2011) nicht, denn Möller gefällt sich dankenswerterweise nicht darin, die Unbarmherzigkeit der Natur triumphierend und drohend zu demonstrieren. Was die Tierchen rettet, das ist etwas, was der Natur fremd ist: eine erzählte Geschichte, also Sinn und soziale Interaktion.

Aber fangen wir von vorne an. In „Die weite Reise der Mauersegler“ folgt der Leser aus der Sicht der dritten Person den Wörtern, die die Bilder beschreiben und zusammenfügen. Man sieht, wie ein nackter, soeben geschlüpfter Mauersegler heranwächst und schließlich fliegt. Diese Vogelart, so lernt nicht nur das Kind, für das das Buch gedacht ist, sondern auch der Erwachsene, der es möglicherweise vorlesen wird, landet nie, sobald sie das Nest einmal verlassen hat. Diese Vögel essen und schlafen im Flug.

Über ihnen schwebend sehen wir die Welt von oben und folgen ihrem Zug ins südliche Afrika. Zwar geht es in diesem Buch um die Mauersegler, aber zweifellos folgen wir dem einen, den wir zu Beginn nackt im Nest sahen. In Afrika geschieht ihm ein Unglück: Bei dem Versuch, ein Insekt zu erhaschen, kommt er dem Boden zu nahe, stürzt ab und kann nicht wieder fliegen, weil er dort unten nicht genug Luft unter seine Schwingen bekommen kann. So würde er verhungern oder gefressen werden, doch Menschenkinder, die Kleinvieh hüten, sind in der Nähe. Sie heben ihn hoch und so kann unser Mauersegler wieder davonfliegen. Und wir können seinem Zug zurück in den Norden folgen, wo er nur dann nicht fliegen wird, wenn er sein Nest baut, Nachwuchs bekommt und großzieht.

Wie „Die weite Reise der Mauersegler“, so wird auch „Rotschwänzchen. Was machst du hier im Schnee?“ in Zusammenarbeit mit der Schweizerischen Vogelwarte Sempach herausgegeben. Auch letzteres Buch arbeitet mit der Bindung des Betrachters an einen individuellen Vogel, doch ist hier der Bezug ungleich enger. Ein Rotschwänzchen ließ unter einer Katzentatze Federn und kann deshalb nicht mit seinen Artgenossen in den Süden ziehen. Die Tiere werden hier durch ein Element Unrealismus individuiert: Sie sprechen miteinander. Aus einem Rotschwänzchen wird das Rotschwänzchen. Der versehrte Vogel bleibt im Winter einfach in unseren Breitengraden. Er hat zwar ohnehin keine Wahl, aber wir sehen, wie die Natur sich dann aufschließt, wenn man gegen ihre Gesetze verstößt. Denn während der Leser Rotschwänzchen durch den Winter begleitet, lernt er, wie verschiedene Tiere die alte Jahreszeit überstehen, was sie fressen und wie sich ihre Nahrung voneinander unterscheidet. Der Igel lebt von seinem angefressenen Vorrat, die Maus von dem, den sie sich im Herbst angelegt hatte. Das, was andere Singvögel fressen, das ist nicht immer für Rotschwänzchens Schnabel geeignet. Wenn es auf die Eule trifft, muss es mit Schrecken gewahren, dass es auch Nahrung für andere ist. Überleben kann es durch andere Tiere: Aus dem Fell eines Rehs kann es Ungeziefer picken, und indem das Wildschwein nach Wurzeln wühlt, kommen für Rotschwänzchen Würmer, Larven und Käfer zum Vorschein. Ein bisschen Wärme in den kalten Nächten findet es zudem bei einer Gruppe Meisen.

Regelrechte Naturkundebücher sind „Über Land und durch die Luft“ (2001) und „Nester bauen, Höhlen knabbern. Wie Insekten für ihre Kinder sorgen“ (2004). In ersterem wird gezeigt, auf welche verschiedene Weisen Pflanzen ihre Samen verteilen, wie weit und an welch unerwartete Orte sie dabei mitunter kommen. Das ist aber nichts verglichen mit den kuriosen Nestbauten im zweiten Buch, für das die Autorin im Jahr 2005 zurecht mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis für das beste Sachbuch ausgezeichnet wurde. Unscheinbare, alltägliche, aber übersehene Tiere vollbringen Erstaunliches: Der Zigarrenwickler, ein kleiner heimischer schwarzer Käfer, knabbert ein Birnenbaumblatt an, wartet, bis es schlaff wird, rollt es ein und legt in die einzelnen Falten seine Eier. Die Blattschneidebiene knabbert kreisrunde Stücke aus Rosenblättern, kleidet mit ihnen eine kleine Mulde aus und legt ein Ei auf ein verlockendes Bett aus goldenem Pollen. In diesem Buch finden sich Möllers detailreichste, liebevollste und ansprechendste Zeichnungen. Naturgetreue Darstellung wird schön und steht in keinem Widerspruch zur Niedlichkeit. In „Über Land und durch die Luft“ überwiegt ihr anderes Stilmittel: die Collage von Ausgeschnittenem respektive Ausgerissenem und Aufgeklebtem. Wenn man sieht, wie ein Rotkehlchen bei einem Gartenzwerg auf der Mütze sitzt und sein pflanzensamengefüllter Kot ihm von der Nase tropft, dann führt Möller vor, dass die Kombination von Humor und Naturkunde nicht immer in Albernheit zusammenfinden muss.

„Zehn Blätter fliegen davon“ (2008) ist ein Produkt zwischen den bisher genannten Genres. An einer Weide hängen zehn Blätter. Im Herbst werden sie davongeweht, und wir bekommen gezeigt, was mit ihnen passiert. In diesem Buch bleibt die Natur nicht unter sich. Ein Blatt rettet eine Heuschrecke vor dem Ertrinken und ein weiteres polstert das Nest eines Eichhörnchens. Doch ein anderes dient als Notizzettel für die Telefonnummer einer Park-Bekanntschaft, weitere werden für Kinderbasteleien verwendet. Das letzte fällt zu Füßen der Weide auf den Boden. Es wird von einem Regenwurm unter die Erde gezogen, gefressen, verdaut und als Humus wieder ausgeschieden – der dann die Weide nährt und die Herausbildung neuer Blätter fördern kann. Hier geht es nur unter anderem um den so genannten ewigen Kreislauf. Aber wo es um ihn geht, da begeht Möller nicht den Fehler, diesen zu hypostasieren. Die Natur hat ihre Regeln, aber das Spiel bleibt offen – und unter beiden Aspekten hat sie ihre Schönheit. Das hebt die Bücher von Anne Möller aus der Masse der Kinderbücher, die Natur thematisieren, heraus.

Im Anhang ihrer Bücher findet sich stets weiterführendes Material, für den Unterricht, für Spiele sowohl in der Wohnung als auch in der Natur und für Basteleien. Da gibt es Rezepte, Lieder, Ausflugstipps, sowie weiterführende Literatur, Spiele, CDs und Videos.

Titelbild

Anne Möller: Die weite Reise der Mauersegler.
atlantis - orrell füssli verlag, Zürich 2011.
32 Seiten, 14,90 EUR.
ISBN-13: 9783715206226

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