Ein Ich, zerspalten und als Subjekt

Yi In-Seong schreibt in „Jahreszeiten des Exils“über Unterdrückung und Selbstbehauptung

Von Kai KöhlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Köhler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein junger Mann sitzt im Winter 1973/74 in einem Bus nach Seoul, vorzeitig vom Militärdienst entlassen, denn der Vater starb. Parallel dazu trifft er seine Freunde von früher, zudem streift er allein durch die Stadt. Ist es nur ein Er, oder: wie viele Ers sind es?

Diese Aufspaltungen sind das Strukturprinzip des Romans „Jahreszeiten des Exils“, den der südkoreanische Autor Yi In-Seong 1983 aus vier Erzählungen zusammengestellt hat. Das Ich dieses Romans ist zersplittert. Auf die Spitze getrieben ist die Schreibweise im dritten Teil, in dem die namenlose Hauptperson nicht nur der Autor eines Theaterstücks ist, das von einer studentischen Gruppe aufgeführt wird, sondern auch Zuschauer und zugleich Schauspieler auf der Bühne.

Man könnte sich nun etwas gelangweilt abwenden mit der Feststellung, dass die erzählerische Avantgarde einst sogar in der koreanischen Prosa ankam, die sonst meist von einem mehr oder minder engagierten Sozialrealismus gekennzeichnet ist. Doch sind bei Yi die formalen Experimente kein ästhetischer Selbstzweck. Vielmehr beschreiben sie die psychische Lage eines Opfers der Diktatur.

Hinweise auf das gewaltgestützte Modernisierungsregime des Präsidenten Park Chung-Hee durchziehen den Text. Wahrscheinlich wurde die Hauptperson zum Militärdienst eingezogen, um an weiteren studentisch-oppositionellen Aktivitäten gehindert zu werden. Zurückgekehrt, steht er vor der Frage, ob und wie er weiter kämpfen soll. Seine Universität wird überwacht, sein früherer Freundeskreis ist zerstritten (wozu ungeklärte Liebesbeziehungen beitragen). Am Ende, im folgenden Winter, soll eine Reise mit der ehemaligen Freundin zur Küste Klärung bringen. Auch hier ist das Militär allgegenwärtig – angeblich, um nordkoreanische Spione abzuwehren. Vereinzelte Posten drohen mit Gewalt, ob gegen den Feind, gegen zufällige Passanten oder verzweifelt gegen sich selbst.

Yi zeigt eine Gesellschaft in der Erstarrung. Ansätze zu Gesprächen im Bus, in der Universität oder beim Theaterspielen scheitern zumeist. Das Theaterstück soll Gewalt und Rebellion anschaulich machen, doch beides findet sich auch bei den Produzenten – die Unterdrückten spielen die Macht der Herrschenden nach, im doppelten Sinne. So traurig wie die Metropole ist die Provinz: Im vierten Teil, der die Küstenreise schildert, wechseln sich trübe Besäufnisse mit einsamen Tagen ab.

Landschaft, Nässe, Licht, Erstarrung sind hier geschickt umrissen und sorgen nicht allein konventionell für Stimmung. Yi vermag – von der winterlichen Busfahrt des ersten Teils über die sommerliche Schwüle im zweiten Kapitel bis zu der dunklen Kälte des Endes – das körperlich Plagende sinnlich erfahrbar zu machen. Auch dadurch übersteigt der Roman ein avantgardistisches Formspiel bei weitem; auch darin zeigt sich übrigens die Arbeit der Übersetzerinnen Kim Sun-Hi und Edeltrud Kim, die zudem bei der Rekonstruktion grammatischer Bezüge im Deutschen, bei grundsätzlich anderem koreanischen Satzbau, Erhebliches geleistet haben dürften.

Das Buch hat also seine Vorzüge, und es hatte sie noch mehr im Hinblick auf die südkoreanische Literatur vor dreißig Jahren. Freilich stellt sich die Frage, ob nicht diese Qualitäten historisch geworden sind. Unmittelbar politisch ist die Frage nach der damaligen Zensur: Wie konnte ein Buch, das das Zerstörerische der Diktatur von 1973/74 derart in den Vordergrund stellt, unter den noch verschlimmerten Bedingungen 1983 erscheinen? Böse geantwortet: Weil es so gut ist. In seiner Komplexität ist es ein Buch für eine Minderheit, vor der sich kein Regime fürchten muss. War das Taktik? Nein, denn Yi fährt bis heute fort, avancierte Schreibweisen zu verwenden. Er wollte das Komplizierte so kompliziert sagen, wie er es sah. Damit war er klüger als die gröberen Oppositionellen, aber eben auch politisch harmloser. Den Konflikt kannte er und verarbeitete ihn in den Streitereien um die Theaterarbeit.

Ist das Schreiben der Avantgarde historisch geworden? Man zögert mit der Antwort. Manche Wendung, die zur Entstehungszeit des Buches auch in Deutschland Interesse gefunden hätte, wirkt nach der Wiederkehr eines zuweilen eher handfesten Erzählens wie aus einer bereits fernen Vergangenheit. Doch bringt Yi seine Hauptfigur immer wieder in Situationen, die im Gedächtnis haften bleiben. Man liest das Buch nicht ohne Mühe, doch worum man sich bemüht hat, daran erinnert man sich. Yi produziert kein formverliebtes Kunsthandwerk, sondern will, mit seinen Mitteln, tatsächlich etwas sagen, was so nur mit seinen Mitteln zu sagen geht. Seine Zerspaltungen der Figuren sind keine selbstzweckhaften Sprachspiele, sondern sie bezeichnen eine geschichtliche Lage und sind zudem mit sinnlicher Erfahrung aufgeladen.

Diese Lage ist interessant für Koreanisten, die zudem einen ganz ungewöhnlichen und die durchschnittliche Bedeutung vorliegender Übersetzungen deutlich übertreffendes Buch kennenlernen können. Doch erreicht Yi in seinem Roman auch ein Allgemeines. Lebenskrisen, das Sich-Klammern an Wahrnehmungen (und die Erfahrung, ihnen ausgeliefert zu sein), die Hilflosigkeit angesichts einer scheinbar umfassenden Herrschaft – dies alles gibt es auch heute, und nicht nur in Korea. Und am Ende entschließt sich die Hauptfigur, sich dem Leben zu stellen: Und so erscheint im Rückblick der Roman, der mit der Zersplitterung des Ich beginnt, als Geschichte einer Subjektwerdung.

Titelbild

Yi In-Seong: Jahreszeiten des Exils. Roman.
Übersetzt aus dem Koreanischen von KIM Sun-Hi und Edeltrud Kim.
Edition Peperkorn, Stedesdorf 2011.
315 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783929181869

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