Zu viel des Guten?

Ein sehr heterogener, aber partiell aufschlussreicher Sammelband über Emotionen

Von Michael BraunRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Braun

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dass unser Wissen exponentiell wächst, wissen wir. Alle vier Minuten entsteht eine neue medizinische Erkenntnis, jede Minute eine chemische Formel. Die literaturwissenschaftliche Fachliteratur zu den berühmtesten Autoren ist selbst für den Experten längst nicht mehr überschaubar. In dieser Situation muss sich jeder Sammelband die Frage gefallen lassen, mit wie vielen Lesern er eigentlich rechnen kann in einer bibliografisch überforderten Wissensgesellschaft.

Der vorliegende Band ist aus dem 2010 an der Mannheimer Universität eingeführten Projekt „Alter lernt und forscht“ entstanden, einem Teil des Gasthörer- und Seniorenstudiums. Die Teilnehmer, die aus so unterschiedlichen Berufswelten wie Gericht, Ingenieurswesen, Bank, Schule ins akademische Spätstudium einsteigen, haben Referate erarbeitet, ein Symposium veranstaltet und ihre Beiträge für den Druck eingerichtet. Das ist ein ehrenwertes Unterfangen. Zumal, wie in der Einleitung betont wird, das Thema „Emotionen“ – verstanden als kommunikative Signale und Bewusstsein von Gefühlen – für ältere Menschen einen anderen Stellenwert hat als für jüngere.

Die Gesamtschau der Beiträge ergibt ein sehr heterogenes Bild: Es reicht von literaturwissenschaftlichen und philosophischen Fallstudien über Kapellen-Architektur und Emotionen im Krankenhausbereich bis zur politischen Emotionalisierung am Beispiel der Saarabstimmung von 1955. Einzelne Aufsätze haben durchaus originelle Ansätze: wie Ernst Bloch Emotionen als philosophischen Erzählstil einsetzt, wie Hermann Burger aus seinen Ängsten Literatur macht, wie Cicero durch emotionale Blockaden depressiv wurde – das findet sich mit viel Detailkenntnis und Entdeckungslust dargestellt, wenn auch der überstrukturierten Gliederung der Beiträge bisweilen noch der seminaristische Stallgeruch anhaftet.

Der Band ist gediegen gemacht, der Titel führt allerdings in die Irre, weil er mit den „Emotionen in der Literatur“ eine thematische Einheit ankündigt, die mit den „Emotionen der Geschichte“ in eine Vielzahl von Zugängen zersplittert. Glücklich also der, der aus dem ein oder anderen Beitrag Ideen schöpfen kann. Dass diesen Sammelband ganz zu lesen wohl keinem Forscher einfallen wird, ist unvermeidlich.

Titelbild

Rosmarie Günther / Julian Köck / Doris Lechner / Marianne Völkl (Hg.): Emotionen in Geschichte und Literatur.
Alter lernt und forscht, Band 1.
Röhrig Universitätsverlag, St. Ingbert 2012.
390 Seiten, 38,00 EUR.
ISBN-13: 9783861105077

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