Griffiger Längsschnitt mit griesgrämigen Einlassungen

Hartmut Reinhardts neues Goethebuch „Dem Fremden freundlich zugetan“

Von Norbert MecklenburgRSS-Newsfeed neuer Artikel von Norbert Mecklenburg

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Hartmut Reinhardt, als Goetheforscher durch ein umfangreiches Werk über die Dramen wie durch Mitarbeit an beiden großen Werkausgaben hervorgetreten, der Frankfurter und der Münchner Ausgabe, hat soeben ein weiteres, diesmal eher kleinformatiges Goethebuch vorgelegt: Es versucht auf 200 Seiten einen knappen Längsschnitt durch das gesamte literarische Werk in Hinblick auf „interkulturelle Bezüge“ zu bieten, wie der Untertitel angibt. Da Goethes Werk außerordentlich reich an solchen Bezügen ist, kann es sich hier nur, wie dem Verfasser bewusst ist, um einen Durchblick handeln, der raffend verfährt, vieles übergeht und Schwerpunkte setzt.

Die ersten beiden Schwerpunkte bilden jeweils ein Kapitel über das Projekt des jungen Autors, eine Tragödie über Mohammed zu schreiben, und eines über das Problemfeld Humanität vs. ‚Barbarentum‘ in „Iphigenie auf Tauris“. Dann folgt, als Hauptschwerpunkt und mittleres der sieben Kapitel, das allein ein Drittel des Buches füllt, nicht überraschend, Goethes „poetische Morgenlandfahrt“, der „West-östlichen Divan“. Die letzten drei Kapitel widmen sich schrittweise der literarisch produktiven Ausweitung von Goethes Blick auf die weite Welt in Ost und West sowie auf „Weltliteratur“: Sie behandeln seine kreative Bearbeitung indischer Legenden, seine lyrische Annäherung an China und seine Amerika-Utopie in den „Wanderjahren“.

In knappen Strichen wird die Offenheit schon des ganz jungen Goethe für fremde Sprachen, Literaturen und Kulturen umrissen. Zu knapp und darum unscharf fällt die Kommentierung des ‚morlackischen‘ „Klaggesangs von der edeln Frauen des Asan Aga“ aus, wenn als die für das Verständnis der Ballade nötigen Kontextaspekte nur die „ins Fremdartige spielenden gesellschaftlichen Regeln“ angesprochen werden. Aufarbeitung slawistischer Forschung zu diesem bosnischen ‚Frauenlied‘ hätte sowohl dessen epische Inszenierung intrakultureller Heterogenität als auch Goethes ‚transkulturelle‘ Bearbeitungsakzente besser herausarbeiten können. Und „Imoskis Cadi“ ist natürlich, wie etwa ‚Triers Bürgermeister‘, kein Eigenname, sondern der Richter der – damals – osmanischen Stadt Imoski.

Im Abschnitt über das „Mahomet“-Projekt verwischt die Deutungsformel „tragische Reibung des Unbedingten an den Bedingtheiten der irdischen Welt“, dass Goethe diese Reibung eindeutig als Verstrickung seines Mahomet in Schuld und Verbrechen darstellen wollte, was die islamophilen unter den Goetheforschern ständig herunterzuspielen versuchen; islamische scheuen hier sogar vor Fälschungen nicht zurück. Wie sie bleibt auch Reinhardt ratlos in Hinblick auf Goethes Übersetzung und Bearbeitung von Voltaires bis heute anstößigem Mohammed-Stück, die er als nur widerstrebend ausgeführte ‚Auftragsarbeit‘ herunterzuspielen versucht. Jürgen von Stackelbergs Nachweis, dass Goethe aus Voltaires „Verbrecher aus Kalkül“ einen „Verbrecher aus Leidenschaft“ gemacht hat, nimmt er nicht zur Kenntnis. Recht schief aber ist es, wiederholt von „Schicksalsglauben“ zu reden, wo es um Goethes allgemeine Islam-Würdigungen geht, die sich wie die Lessings nicht auf ein anonymes Schicksal, sondern auf die göttliche „Vorsehung“ beziehen und auf „Ergebung“ in sie.

Das Kapitel über „Iphigenie auf Tauris“ konzentriert sich, unter Verweis auf das ausführlichere im Buch des Autors über Goethes Dramen, auf die Spannung von inszeniertem Humanitätsideal einerseits und Festhalten an der Asymmetrie Griechen vs. ‚Barbaren‘ andererseits – daneben auch an der Asymmetrie der Geschlechterrollen. Theologiekritik, Absolutismuskritik, interkulturelle Intoleranzkritik werden dem Stück zugestanden, nicht aber überzeugende Kritik am Ausgrenzungsdiskurs, dem die Figur des Thoas und sein Volk unterliegen, seitens der griechischen Figuren einschließlich Iphigenies und auch, nach Meinung Reinhardts, die aber zu hinterfragen wäre, seitens des Stückeschreibers. Wie in Mozarts „Entführung aus dem Serail“ die spanischen Gefangenen an die des osmanischen Paschas so appelliert auch Iphigenie „nicht vergebens an die Großmut des Thoas. Doch für ihn hat sie einen bitteren Preis“. Was aber schließt aus, dass Goethe auch diesen Preis seinem Publikum kritisch vor Augen stellen wollte, anstatt ihn, aus Zwängen des Plots, gedankenlos hinzunehmen? Die interessante Parallele zur ‚Türkenoper‘ hat Reinhardt übrigens aus dem sehr instruktiven Buch „Humanität und Kreuzzugsideologie um 1780“ von W. Daniel Wilson übernommen, jedoch ohne den Titel auch zu nennen.

Das Hauptkapitel über den als interkulturelles Werk geradezu unerschöpflichen „Divan“ begnügt sich notgedrungen mit einem Querschnitt, der orientierenden und exemplarischen Zugriff zu verbinden sucht. Angesichts des Überangebots von Forschungsarbeiten und Kommentaren – zuletzt die neue, völlig revidierte und nochmals erweiterte Ausgabe von Hendrik Birus 2010 – kann Reinhardt im orientierenden Teil des Kapitels kaum eigene Akzente setzen, sei es zu Goethes leitendem Konzept der ‚Orientalisierung‘, poetisch vor allem durch Formen von Intertextualität, sei es zur Entstehungs- und Wirkungsgeschichte des „Divan“.

Deren aktuellste Wendung ist in einem instruktiven Exkurs über die Einbeziehung Goethes in die unter anderem durch Thilo Sarrazin und einen verflossenen Bundespräsidenten neu angefachte Islam-Debatte in Deutschland festgehalten. Unverständlich allerdings ist, warum Reinhardt Necla Keleks völlig richtigen Hinweis, dass Goethes „Mahomet“-Projekt auch Islamkritik enthalte, damit abzuweisen versucht, dass dessen „tragisches Dilemma“ in „Trübung von religiöser Spiritualität durch ihre gewaltpolitische Ausbreitung“ besteht. Gibt dieses offenbar unauflösliche Miteinander von Spiritualität und Gewalt von Mohammed bis heute nicht allen Anlass zu kritischen Fragen an den Islam, wie sie nicht-islamophile Islamforscher von Maxime Rodinson bis Tilman Nagel mit Recht gestellt haben?

Der exemplarische Teil des „Divan“-Kapitels widmet sich, plausibel gedoppelt, den beiden in dem Werk dominierenden und auch hintergründig ineinanderspielenden Themen Liebe und Religion. Eines der hintergründigsten und darum meistkommentierten Liebesgedichte des „Divan“ ist „Gingo biloba“, das der namhafte interkulturelle Philosoph Elmar Holenstein kürzlich auf höchst spannende Weise mit einem chinesischen Bildgedicht von Kaiser Qianlong verglichen hat. Reinhardt hätte bei Birus finden können, dass Goethes inspirierende ‚Begegnung‘ mit einem Ginkgobaum wohl nicht „im Heidelberger Schloßgarten“, sondern in einem Privatgarten seiner Vaterstadt Frankfurt stattfand. Der Abschnitt zum Thema Religion skizziert instruktiv mit sicheren Strichen Goethes respektvollen, aber zugleich völlig freien und oft ironischen Umgang mit diesem Thema. Leider gibt es, wie fast im ganzen Buch, hier keine genaueren Textanalysen, die das anschaulich belegen könnten: etwa zum Subzyklus der ‚Fetwa-Gedichte‘, zur Siebenschläfer-Legende oder zu „Süßes Kind, die Perlenreihen“ aus dem Nachlass.

Im Indien-Kapitel tut sich Reinhardt schwer, sich einen Reim auf den Widerspruch zwischen Goethes harscher Ablehnung hinduistischer Mythologie einerseits und lobender Anerkennung indischer Dichtung andererseits zu machen. Er folgt einer allzu eng kontextualisierenden Forschung, die diesen Widerspruch allein aus Goethes Abwehr der Romantik erklären möchte, anstatt auf eines der leitenden Konzepte des ganzen „Divan“, die Konkurrenz von Dichtung und Religion, einzugehen. Zu den beiden bewundernswerten ‚indischen‘ Legenden Goethes weiß er kaum Neues beizutragen, es sei denn, man wertet das großmütige Zugeständnis, dass „Leserinnen“ (!) am Frauenbild in ihnen Anstoß nehmen könnten, als Neuigkeit in der männlichen Goetheforschung. Er verbleibt vielmehr auf einer affirmativ-apologetischen Spur und bezieht die Metapher der Wasserballung aus „Divan“ und „Paria“ auf Goethes „poetische Kraft“, die alle kritischen Fragen verstummen lässt.

Das Kapitel über den letzten und fernsten Orient, dem Goethe sich lesend und schreibend angenähert hat, nämlich China, bietet, wie die Einleitung zum „Divan“-Kapitel, einen gut orientierenden Überblick. Und auch die Analysen der Gedichte der „Chinesisch-deutschen Jahres- und Tageszeiten“ wären ganz plausibel, wenn es da nicht auch Missgriffe gäbe: Ein solcher besteht darin, die sehr tiefsinnige Spruchserie der Gedichte IX bis XI gegenüber den früheren Gedichten als „herbstlich-fahlen Wissenschaftsdiskurs“ abzuwerten. Ein anderer Missgriff besteht darin, die geistige und poetische Zuwendung des sehr alten Goethe zu China als bloße „literarische Höflichkeit“ einzuschätzen, anstatt zu erkennen, dass der Autor vermutlich in diesem fernsten zugleich seinen nächsten Orient sah: nämlich aufgrund einer ähnlichen Einstellung zur Natur.

Das Schlusskapitel über „Weltliteratur“ und „Wanderjahre“ ist im ersten Teil, gemessen an der ex- und intensiven Forschung, allzu knapp ausgefallen, im zweiten, trotz gleicher Knappheit, sehr instruktiv: Goethes letzter Roman als „das literarische Pendant seiner weltliterarischen Intention“. Reinhardt konzentriert sich auf das Amerika-Projekt eines Teils der handelnden Personen, weil darin der Versuch zu erkennen sei, „den Eurozentrismus in weltliterarischer Gesinnung zu öffnen“ und aufs Interkulturelle und Universelle hin zu überwinden. Überraschenderweise läuft nun dieses letzte Kapitel und damit das ganze Buch, das voller merkwürdig griesgrämiger Sottisen wie gegen Theorie, interkulturelle zumal, so auch gegen kritische Stimmen in der Goetheforschung ist, selber auf Kritik hinaus: Goethe, der sich, übrigens gleichzeitig mit seiner lyrischen Huldigung an China, als Bewunderer der Vereinigten Staaten poetisch äußerte, hat in die komplexe Prosa der „Wanderjahre“ einen Siedlungsplan eingebaut, der die „repressive Ordnung eines autoritären Polizeistaats“ zeichne, einschließlich permanenter Überwachung aller und antisemitischer Exklusion von Juden. Zurücknahme der interkulturellen Euphorie des „Divan“? Wie schon im gleichfalls ausnahmsweise kritischen Kommentar zur „Iphigenie“ gelingt es Reinhardt weder, diese Kritik mit seiner übrigen Leseweise des ‚interkulturellen‘ Goethe zu vermitteln, noch, sie als möglichen Bestandteil des Werks selbst, seiner Komplexität, zu verstehen.

Titelbild

Hartmut Reinhardt: Dem Fremden freundlich zugetan. Interkulturelle Bezüge in Goethes literarischem Werk.
Verlag Traugott Bautz, Nordhausen 2012.
204 Seiten, 40,00 EUR.
ISBN-13: 9783883096896

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