Arbeitslager statt „Gelobtes Land“

Wolfgang Ruge erzählt von seinen Erlebnissen in „Stalins Sowjetunion“

Von H.-Georg LützenkirchenRSS-Newsfeed neuer Artikel von H.-Georg Lützenkirchen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Aus heutiger Sicht ist kaum mehr vorstellbar, mit welcher Konsequenz sich die Ideologien des 20. Jahrhunderts der Menschen bemächtigten, um sie als entindividualisiertes Menschenmaterial auszubeuten. In den Konzentrationslagern der Nazis erreichte diese Menschenverachtung einen erschreckenden Endpunkt: die Auslöschung jedes individuellen Lebens entweder durch gezielten Massenmord oder in Form einer bewussten ‘Vernichtung durch Arbeit‘. Das andere Lagersystem entstand in Stalins Sowjetunion. Der Begriff „Gulag“ (= Hauptverwaltung der Arbeitslager) kennzeichnet das seit den 1930er-Jahren zu einem Terrorinstrument ausgebaute Lagersystem der Sowjetunion. Man nimmt an, dass bis zu 18 Millionen Menschen in der Zeit von 1930 bis zu Stalins Tod 1953 interniert waren. Die Zahl der Toten ist bis heute unklar. Die meisten starben an Erschöpfung und Überarbeitung, Unterernährung, Erkrankung, Erfrierung oder drakonischen Strafen.

Vor dem Lager war in Stalins Reich niemand sicher. Und so konnte es auch die deutschen Kommunisten treffen, für die die Sowjetunion nicht nur ein lebensrettender Fluchtort vor Hitlers Terrorregime war, sondern auch das „gelobte Land“, in dem man sich am Aufbau der besseren Gesellschaft aktiv beteiligen wollte. Zu diesen Menschen gehörte auch der 1917 in Berlin geborene Wolfgang Ruge. Der junge Kommunist war 1933 mit seinem älteren Bruder Walter nach Moskau gekommen. Er sprach russisch, fand Jobs und konnte ein Studium beginnen. Doch bald schon änderten sich die Lebensbedingungen in der „neuen Heimat“. Die großen „Säuberungen“ der 1930er-Jahren forderten erste Opfer. Es verschwanden auch Freunde und Bekannte, deren ,Schuld‘ sich niemand erklären konnte. Eine unheimliche Atmosphäre der Angst und des Misstrauens breitete sich unter den Verbliebenen aus. Die Verunsicherung wuchs nach dem Hitler-Stalin-Pakt im Sommer 1939. „Ich empfand die Nachricht wie einen Keulenschlag“ schreibt Ruge, während um ihn herum viele Menschen zwar verblüfft reagierten, dann aber die „deutsch-russische Verständigung“ begrüßten. Das zynische Bündnis der beiden Diktatoren hielt nicht lange. Die Wehrmacht überfiel am 22. Juni 1941 die Sowjetunion.

Am 2. September 1941 begann Wolfgang Ruges Leidensweg mit der ,Evakuation‘ aus Moskau. Über Kasachstan kam er schließlich in ein Arbeitslager in den Nordural, in das Gebiet Swerdlowsk. Erst 1956 konnte er in die DDR ausreisen.

Seine Erlebnisse hat Wolfgang Ruge über die Jahre nicht niedergeschrieben. Sein Sohn, der Schriftsteller Eugen Ruge, bemerkt im Nachwort zu dem von ihm herausgegebenen Band, dass ein Grund für diese Zurückhaltung die traumatische Erfahrung war. „Wolfgang Ruge hat, so glaube ich, zeitlebens nach einer angemessenen Form für die Verarbeitung seines Traumas gesucht.“

Erst spät also machte er sich an die Niederschrift des Erlebten. Die ersten Teile entstanden in den Jahren 1984 bis 1986 und behandelten die Jahre in Moskau bis zur Verbannung. Die Teile über die Jahre im Arbeitslager bis zur Ausreise in die DDR entstanden 1998 und 1999. Inwieweit sich Ruge dabei auf eigene frühere Aufzeichnungen stützte, konnte der Herausgeber nicht mehr rekonstruieren. In jedem Fall bedingt Ruges später Blick zurück einige Besonderheiten. Auf der einen Seite erzählen die Aufzeichnungen vom Schrecken der Lager und dem Leid der Menschen. In dem Maße aber wie die Geschehnisse durch die Jahre zur Vergangenheit wurden, fehlt ihrer Darstellung eine unmittelbar wirkende Eindringlichkeit. Man spürt, der Erzähler, selbst Historiker, weiß sehr viel über das Gulag-System und zuweilen klingt ein sachlich analytischer Ton an. Es ist also weniger ein Leidensdruck, der das Schreiben motiviert als vielmehr ein Erklärungsvorhaben. Und damit hängt ein weiterer Aspekt zusammen, der diese Aufzeichnungen kennzeichnet: Ruge ging 1956 bewusst in die DDR und nicht in den Westen. Er blieb also loyal dem System gegenüber, das ihn eben noch terrorisiert hatte. Oder anders ausgedrückt: Er blieb seinen Idealen treu. Zugleich musste er sich aber eingestehen, dass seine Erlebnisse bewiesen, wie wenig die politische Realität des ,Sozialismus‘ mit diesen Idealen noch etwas zu tun hatte. Dieser Konflikt, auf der einen Seite die Verbrechen des Systems zu benennen ohne andererseits mit ihm grundsätzlich zu brechen, durchzieht die Aufzeichnungen Ruges.

Eine schmerzliche Herausforderung, der sich Ruge aber schließlich stellte. Und darin legt der besondere Wert dieser Aufzeichnungen. Sie lassen sich nicht vereinnahmen. Sie behaupten kein „richtig“ oder „falsch“. Indem sie umfassend und aufrichtig das Erlebte schildern, dabei immer wieder nach Erklärungen suchen, werden diese Aufzeichnungen zu einem Dokument, das das tragische Dilemma eines Kommunisten im 20. Jahrhundert zu verdeutlichen mag. Darin lag für Ruge aber letztlich wohl auch das ,Problematische‘ an diesen Aufzeichnungen. Es ist Eugen Ruge zu danken, dass er diese Ambivalenzen nicht zugunsten einer eindeutigen Positionierung geglättet hat.

Titelbild

Wolfgang Ruge: Gelobtes Land. Meine Jahre in Stalins Sowjetunion.
Rowohlt Verlag, Reinbek 2012.
490 Seiten, 24,95 EUR.
ISBN-13: 9783498057916

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