Eden in Kirchstetten

Zu Kurt Leutgebs Roman „Kirchstetten“

Von Alexander SprungRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alexander Sprung

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die offizielle Geschichtsschreibung liebt den großen, dramatischen Bogen. Besonders die klassischen und humanistischen Geschichtsschreibungen mit ihrem Interesse an Staatskonflikten, großen Persönlichkeiten und Tragödien shakespearschen Ausmaßes suggerieren solche erzählförmigen Prozesse in der Historie. Das 20. Jahrhundert hingegen ist von dem Versuch gekennzeichnet, alternative Geschichtsschreibungen zu entwerfen und Kontingenzen geschichtlichen Werdens zu enthüllen. Solche alternativen Geschichtsschreibungen können als Gegenstimmen zu deterministischen Geschichtsauffassungen verstanden werden.

Kurt Leutgebs Roman „Kirchstetten“ ist in diesem Sinne jedoch keine „alternative Geschichtsschreibung“. Leutgeb behält die herkömmliche Sicht historischer Ereignisse bei, setzt ihnen aber ein virtuoses Verwechslungsspiel mit verbürgten Namen entgegen, in dem die Namen großer Figuren in Politik, Literatur und Wissenschaft wild durcheinandergewürfelt werden. Daraus resultiert ein unglaublich komplexes Feld von Beziehungen und historischen Anspielungen, das sich mit jeder Lektüre verändert. Ausgangspunkt sind drei verschiedene Orte gleichen Namens. Kirchstetten im Weinviertel, im Wienerwald und im Burgenland zu drei verschiedenen Zeiten. Dabei interessiert es den Autor nicht, diese Orten und Zeiten voneinander abzugrenzen: Beim Versuch, den Dichter „Eden“ (hinter dem sich W. H. Auden verbirgt) aufzusuchen, besucht der Dichter „Breschnew“ zuerst das burgenländische, dann das weinviertlerische Kirchstetten, um am Abend schließlich im eigentlich gesuchten, nämlich im Kirchstetten des Dichters anzukommen. Bereits hier lohnt es sich inne zu halten – ist es eine Irrfahrt nach klassischem Muster, die Suche nach „Eden“, die angesprochen wird? Warum heißt der Dichter „Breschnew“, wo doch bekannt ist, dass Breschnew eine neue Epoche der Zensur in der Sowjetunion initiierte? Man merkt: durch die einfache Vertauschung von Namen erzeugt Leutgeb ein lustvoll-komplexes Gefüge, das je nach Lektüre und geschichtlichem Wissen des Lesers anders zu schillern und oszillieren beginnt.

An der Grenze des burgenländischen Kirchstetten wiederum patroullieren unter dem Befehl des „Oberst Solschenyzin“ Stus, Brodsky und und Jerofejew an der ungarisch-burgenländischen Grenze, an der eine „Bachmann-Tochter“ spazieren geht. Doch damit nicht genug: Durch den Feldstecher können Stus, Brodsky und Jerofejew noch Charms, Pasternak und Dowlatow erkennen, die ebenfalls zu den patroullierenden Soldaten gehören. Spätestens hier wird der aufmerksame Leser aufmerksam, sein literarisches Wissen auffrischen –oder aber zu einem überforderten Deuter der hier geschilderten Maskeraden. Denn anstrengend ist die schiere Menge an Namensvertauschungen schon, die selbst vor Städten und politischen Ereignissen nicht halt machen: So heißt Stalingrad „Tschechowgrad“ und die stalinistischen Säuberungen sind die „platonowschen“ Säuberungen, benannt nach dem Dramen-Erstling Tschechows.

Vordergründig bleibt hier jedoch alles beim Alten: Zensur gibt es auch in Tschechowgrad, der Eiserne Vorhang steht auch hier noch. Durch den einfachen Kunstgriff der Vertauschung der Namen entsteht jedoch ein im wahrsten Sinne des Wortes kontingentes Beziehungsfeld, dessen Aufschlüsselung selbst wieder neue Rätsel erzeugt. Fast fühlt man sich hier an die Figur der russischen Puppen oder des mise en abyme erinnert, der Spiegelung der Spiegel – die Lektüre bleibt offen.

Der einzige, mit Vorbehalt vorgebrachte Kritikpunkt betrifft den artifiziellen Charakter der Namensverstauschungen – an einigen Stellen wirken sie einfach willkürlich. Herrlich ist hingegen die Betonung von Nebensächlichkeiten, das Spiel mit den enttäuschten Erwartungen: Statt Brechnews Fragen nach Edens Bewertung von Schriftstellern zu beantworten, treibt ihn die Frage um, warum Russen ihre Scheibenwischer von den Autos entfernen (Antwort: um einem Diebstahl vorherzukommen). Die Odysee nach Eden wird nicht von verführerischen Sirenen, Zyklopen oder Magierinnen begleitet, sondern von Schildern der „Kronenzeitung“, die die Landschaften säumen.

So vertieft man sich weiter in Leutgebs Vexierspiel, betreibt Entzifferungsarbeit und kommt doch zu keinem sinnvollen Ergebnis. Das ist nicht weiter schlimm, denn erstens hat man ja Lust dabei und zweitens findet man bei seiner Suche Nebensächlichkeiten, gerät auf Abwege und lernt einiges über die russische Geschichte, Schriftsteller und den englischen Dichter W. H. Auden.

Übrigens: W. H. Auden hätte über den Schlager „Jenseits von Eden“ wohl ironisch gelächelt, in dem es heißt: „Wenn man für Liebe bezahlen muss, nur um einmal zärtlich zu sein / Dann hast du umsonst gelebt.“ Auden, der immer wieder Strichjungen nach Kirchstetten bestellte, hätte diese „Lebensweisheit“ unwirsch zurückgewiesen: „Es ist mir Wurscht.“ Dass sein Name hier nur unbeholfen als „Eden“ entschlüsselt wird, mag vielleicht für Kurt Leutgebs poetologische Prämissen stehen.

Wie dem auch sei: Verwegen, überreich an Anspielungen und falschen Fährten, ist „Kirchstetten“ ein Roman für den Leser geworden, dessen Lust sich nicht aus der passiven Lektüre, sondern der aktiven Suche nach Sinn speist.

Titelbild

Kurt Leutgeb: Kirchstetten. Roman.
Limbus Verlag, Innsbruck 2011.
111 Seiten, 15,90 EUR.
ISBN-13: 9783902534521

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