Seltsame Ambivalenz

Gianni Sparapans Roman „Eolo“ schwankt unentschieden zwischen Fakt und Fiktion

Von Falk QuenstedtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Falk Quenstedt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„O bella, ciao! bella, ciao! bella, ciao, ciao, ciao!“ Dieses Lied enthält die Essenz der Partisanenromantik. Es handelt von Freiheit, von Tod und von schönen Frauen. Es ist ein zärtliches und sehr trauriges Lied. Yves Montand konnte es singen. Hannes Wader dagegen eher nicht. Es ist aber auch und vor allem – und so recht will das nicht zusammenpassen – ein Kampflied. Vielleicht ist es diese widerspenstige Verbindung, die es am Leben erhält. Was nicht festzulegen ist, ist auch nicht totzukriegen.

Die Geschichte der Resistenza und des Partisanenkampfes gegen die Deutschen und Mussolinis norditalienischen Marionettenstaat, die „Republik von Salò“, in den Jahren 1943 bis 1945, ist nicht als Geschichte im Singular zu erzählen. Denn die CNL, das ,Komitee für nationale Befreiung‘, suchte zwar den Widerstand zentral zu koordinieren, doch getragen wurde er von den vielen kleinen Partisanengruppen und ihren charismatischen Anführern. Diese bande waren politisch und sozial alles andere als homogen: Sozialisten, Kommunisten, Anarchisten. Sie rekrutierten sich aus dem bürgerlichen und kleinbürgerlichen Milieu, bestanden aus Landarbeitern und Proletariern. Im Einzelfall mögen auch existenzielle, zum Teil kriminelle Motive oder persönliche Vendetten eine Rolle gespielt haben. Mit Sabotageaktionen und Überraschungsangriffen versuchten die partigiani aus ihren Verstecken in den Bergen heraus die Besatzer empfindlich zu treffen, zu zermürben, schließlich zu vertreiben. Oft stammten die meist jungen Männer aus Familien mit Widerstandstradition. Schon in ihrer Kindheit haben sie den Terror der faschistischen, paramilitärischen Schlägertrupps, der squadristi, gegen ihre Eltern und ihre Verwandten erfahren müssen, manche am eigenen Leib. Darauf folgten die Repressionen der Polizei und Miliz während der Diktatur Mussolinis und schließlich die Schreckensherrschaft der Deutschen und der SS.

Nun will es eine romantisierende Tradition der Geschichtserzählung so, dass nicht in erster Linie die akademische Geschichtsschreibung, sondern das lebendige, kollektive Gedächtnis der verschiedenen Landstriche und Kleinstädte in der Emilia, in Venetien oder im Piemont die Erinnerung an diesen Kampf wach hält. In Liedern, Geschichten und Anekdoten – so muss man es sich wohl vorstellen – werde die Erfahrung der Resistenza singend und erzählend von Generation zu Generation weitergetragen.

Aber ist das noch zutreffend? War es das überhaupt jemals? Ist das nicht ein weltfremdes Wunschdenken angesichts eines tatsächlichen Vergessens, angesichts  eines Abschnitts der Geschichte, der besonders von Ambivalenzen geprägt ist? Ist das nicht vielleicht eine zweite Volte der Partisanenromantik, die die Sehnsucht nach der ebenfalls schon der Vergangenheit angehörenden Erinnerung beschwört und zu erneuern sucht?

Vielleicht war tatsächlich der Wunsch nach Erneuerung einer solchen romantisierenden – und damit simplifizierenden – Erinnerungskultur der Grund für den Historiker, Autor und Lehrer Gianni Sparapan, die Geschichte eines dieser Partisanenführer zu erzählen. Allerdings eines nicht unumstrittenen Sonderlings namens Eolo Boccato, der 1918 wie schon sein Vater in der Verbannung, dem confino, geboren wurde und 1945 in einem Versteck ums Leben kam, wo er mitsamt seinem verblieben Mitkämpfer aufgespürt und ausgeräuchert wurde. Die Leichen enthauptete man und stellte die Köpfe im Zentrum der Stadt Adria, die Schauplatz des Romans ist, aus. Seine Biografie, wie hier schon deutlich wird, liefert auch einen Einblick in die Geschichte der Gewalt in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Gianni Sparapans historisch-biographischer Roman „Eolo. Una vita breve e violenta tra fascismo e Resistenza“, der in Italien bereits im Jahr 2002 erschien, liegt nun im Bremer Donat Verlag in der deutschen Übersetzung von Günther Gerlach vor, der bereits 2007 eine Erzählungssammlung Sparapans mit dem Titel „Damals und Heute“ übersetzte.

Eine solche Beschwörung der Vergangenheit mittels ihrer Poetisierung ist allerdings ein verzweifeltes Anliegen, muss es doch zwangsläufig – mindestens seit der Moderne, unbedingt aber seit der Postmoderne – zur Folklore geraten. Bierernster historisch-dokumentarischer Anspruch einerseits und todernste romantische Mythologisierung andererseits: Wie soll das zusammengehen, ohne dass mindestens eins von beiden unglaubwürdig und die ganze Sache verdächtig wird? Erst recht, man muss es leider sagen, wenn beides so ungelenk ausgeführt ist.

So ist der feierlich-raunende Erzähler Sparapans unentwegt bemüht, dem Leser die raue Schönheit des Städtchens Adria und der sie umgebenden historischen Gegend der Polesine im Po-Delta derart detailliert und enthusiasmiert anzupreisen, dass streckenweise der Eindruck entsteht, man lese einen schlechten Reiseführer. So ist die Figureninventarisierung dermaßen überengagiert, dass einem schnell vor lauter Namensnennungen der Kopf schwirrt. Außerdem sind die minutiösen Schilderungen von Vorgängen, die das Leben und den Jahresablauf der ‚einfachen und ehrlichen‘ Leute strukturierten, wie Ernten oder Schlachtungen, das Baden im Fluss oder das Fangen von Vögeln, einfach nur ermüdend. Mit der Geschichte Boccatos haben sie kaum etwas zu tun. Warum dieser überbordende Naturalismus? Warum hat Sparapan nicht ein historisches Buch oder eine Biografie geschrieben? Warum einen Roman?

Tatsächlich strotzt „Leben und Schicksal“ dieses „italienischen Anarchisten“ – wie es im deutschen Untertitel heißt – nur so vor literarischem Potential. Denn in Boccato steckt ein umgekehrter Michael Kohlhaas: Nach der Ermordung von Eolos Bruder durch die Faschisten, nahm die Banda Boccato selbst blutrünstig Rache an einer den Tätern nahe stehenden Familie. Das hat bis heute ein zwiespältiges Bild Boccatos sowohl bei Historikern als auch bei den Einwohnern Adrias hinterlassen. Warum aber interessiert sich Sparapan gerade für diesen Aspekt so wenig?

Aber was heißt hier eigentlich „Anarchismus“ ? Weniger ist damit ein intellektuell an Proudhon oder Bakunin orientierter politisch-radikalen Aktionismus gemeint. Vielmehr eine vielleicht sehr italienische Mentalität, die Staat und katholischer Kirche höhnisch begegnet und stattdessen einem fröhlichen, vitalistischen Pantheismus der Natur, der Freiheit und der Liebe – aber auch der Familie – frönt, der deutschen Lesern in ganz anderen Zusammenhängen bekannt vorkommen dürfte – nur eben ohne Familie. Beredtes und skurriles Zeugnis dieser Lebenseinstellung und Weltsicht legt allein schon der Name „Eolo“ ab, der sich von dem griechischem Gott des Windes, „Aiolos“, herleitet. Ähnliche Namen tragen auch Boccatos 13 Geschwister. Einen geschmacklosen Zug bekommt diese Exzentrik der Namensgebung bei einem Familienvater, von dem im Vorwort von Vinzenzo Orlando die Rede ist. Dieser einfallsreiche Anarchist hat seine Kinder gleich nummerierend benannt: ‚Primo‘, ‚Secondo‘, ‚Terzo‘, ‚Quarto‘ und ‚Quinto‘; die kleine Schwester dann: ‚Sesta‘.

Der Grund, dass in diesem Roman aus Boccato nur in Ansätzen eine abgründig-ambivalente Figur wurde, ist bei den Sympathien des Autors für eben diese zu suchen. Das ist natürlich nicht verboten, aber es ist langweilig.

So verkündet die Geburt des Helden – man kann das Wort hier ruhig buchstäblich verstehen – ein hymnenhaftes Gedicht auf den Wind. Aber auch die Prosa ist im Ton immer panegyrisch. Für einen historischen Roman, der doch gerade die Möglichkeit hat, eine Vielzahl von Stimmen, Mentalitäten und „Realitäten“ zu Wort kommen und miteinander ins Gespräch treten zu lassen, ist das verheerend. Denn widerspricht in Sparapans Roman einmal eine Figur seinem Protagonisten Eolo oder dessen Vater, so kratzt sie sich anschließend „den ungepflegten Bart“ oder schluckt „gierig ein halbes Ei“ hinunter. Sagen hingegen die Sympathieträger etwas, so beginnen unvermeidlich sofort „ihre Augen zu glänzen“ und ebenso unvermeidlich sehen sie ihr Gegenüber immer „fest an“. Dann fallen auch mal Sätze wie: „Ihm bedeutet das Glück der Menschen alles.“ Das konnte sogar der sozialistische Realismus schon mal besser.

Unfreiwillig komisch wird es, wenn es um die Liebe geht. Fragt etwa der Vater den Sohn, ob der verliebt sei, so heißt es: „Eolo antwortete nicht, zog einen Aprikosenzweig zu sich heran und roch an den Blüten.“ Doch gerade was das Verhältnis der Geschlechter angeht, bleibt es nicht nur komisch, womit man auf ein letztes Ärgernis dieses Buches zu Sprechen kommen muss: Seinen männlichen Chauvinismus.

Anhand eines der vielen kitschigen Dialoge zwischen den Jungverliebten Eolo und Anna – die größtenteils einem „Dr. Stefan Frank“- oder „Bergdoktor“-Heft entnommen sein könnten – lässt dieser sich gut veranschaulichen: Er wirbt um Sie. Sie muss selbstredend alle Tugendkräfte aufbringen, um dem unwiderstehlichen Revoluzzer nicht auf der Stelle zu verfallen. Dann sagt sie einmal: „Aber ich will ein ruhiges Leben führen, wie alle anderen Frauen.“ Und Eolo antwortet: „Das kannst du nicht.“ Auf Annas Frage, warum denn nicht, eröffnet ihr der Held: „Weil du eine besondere Frau bist. Du bist meine Frau.“ Die Frau bezieht folglich ihre Identität über den Mann, unverblümter kann man das nicht in Szene setzen. Und sie bleibt stumm. Als das Paar kurz darauf einen Ausflug macht, küsst er sie – „Und in dieser Stunde gab sie sich ihm hin.“

Frauen kommen insgesamt in diesem Roman auf zwei, vielleicht auf drei Arten vor. Entweder als weiß strahlende, unschuldige, begehrenswerte Jungfrauen oder als – wie es einmal über den Tod heißt – „schwarze Alte“. Dazwischen stehen die Mütter, Ehefrauen und Schwestern. Sie sind die Spielverderberinnen der freiheitsverrückten Männer, sie sind die, die Kompromisse machen – etwa beim Broterwerb, um ihre Männer aus der Haft zu befreien oder bei der Kindererziehung – und allein schon deshalb sind sie dem Erzähler suspekt.

Um ein diplomatisches Fazit zu ziehen: Wer einen literarisch interessanten Roman sucht, der in der Lage ist, historische Perspektiven zu eröffnen und die Widersprüche und Verwirrungen eines spezifischen Lebens und des Lebens im Allgemeinen zu schildern – und das ist ein Anspruch, den der Roman immer wieder durchblicken lässt – der wird mit „Eolo“ sicherlich nicht sehr glücklich werden.

Wer sich aber über die tief verwurzelte Mentalität des norditalienischen ländlich-kleinstädtischen Anarchismus, über die Lebensbedingungen eines latent widerständigen und in die Armut gezwungenen Teils der italienischen Bevölkerung während des Faschismus oder gar über die neuere Geschichte der Stadt Adria informieren will, der wird hier fündig werden. Der muss dann aber auch den „Roman“ ertragen. „Bella Ciao“ wird bleiben. „Eolo“ nicht.

Titelbild

Gianni Sparapan: Eolo. Leben und Schicksal eines italienischen Anarchisten 1918 - 1945.
Übersetzt aus dem Italienischen von Günther Gerlach.
Donat-Verlag, Bremen 2011.
180 Seiten, 12,80 EUR.
ISBN-13: 9783938275801

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