„Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“

Manfred Geier führt in die Geschichte der europäischen Aufklärung ein

Von Patrick WichmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Patrick Wichmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit.“ Wann immer der Begriff der ‚Aufklärung‘ fällt, ist dieser Ausspruch Immanuel Kants aus seiner Schrift „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“ nicht weit. Dabei ist diese Sentenz knappe Definition und programmatische Aufforderung zugleich. Auch Manfred Geier räumt Kant in seinem Buch „Aufklärung. Das europäische Projekt“ einen zentralen Stellenwert ein. Sein Einführungswerk setzt jedoch bereits deutlich früher ein: Geier führt den Leser von den Anfängen der Aufklärungsbewegung in England, über den Fortgang bei den „bösen Philosophen“ Frankreichs bis hin zu dem Deutschen Idealismus Kant’scher Prägung und dem Bildungsreformprogramm Wilhelm von Humboldts. Anhand einzelner epochaler Texte und Persönlichkeiten zeichnet Geier den Weg der Aufklärung nach.

Als Ausgangspunkt des aufklärerischen Gedankens exponiert Geier John Locke, der „die Menschen zur Mündigkeit anleiten“ will, und seine Schrift „Ein Versuch über den menschlichen Verstand“ („An Essay Concerning Humane Understanding“). Der Rationalist Locke habe eine „embryonale Idee“ über den menschlichen Geist entwickelt, indem er diesen als ‚Tabula rasa‘ gezeichnet hat. Er geht von einer leeren Urform des Verstandes aus, die erst durch Erfahrungen angereichert und gefüllt werde. Das menschliche Wissen grenzt Locke in einem nächsten Schritt von bloßen Vermutungen ab. Darüber hinaus konzipiert er eine Idee von ‚natürlichen Rechten‘, die allen Menschen gegeben seien; Leben, Freiheit und Eigentum seien ureigenste Ansprüche eines Jeden. Damit schuf Locke bereits unwissentlich einen Prototyp der berühmten und leicht modifizierten Formel „Life, Liberty and the Pursuit of Happiness“ der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung. Nach Locke finde in der menschlichen Gesellschaft eine politische Organisation statt, um persönliche Vorteilsnahme zu begrenzen und somit Freiheit und Besitzstand des Einzelnen zu schützen – anders als Thomas Hobbes in seinem „Leviathan“ geht er jedoch von einem friedlichen ‚Urzustand‘ aus. Auch zu Fragen der Religion äußerte sich Locke. In seinen Werken zieht er eine Grenzlinie zwischen gesicherter Erkenntnis und spekulativer Möglichkeit, die es zu vermeiden gelte. Dennoch strebt er nicht die Rationalisierung oder gar Abschaffung der Religion an, sondern tritt lediglich für eine kritische Überprüfung der hergebrachten Überlieferungen ein, um theoretisierende Hypothesen zu vermeiden. Zugleich plädiert Locke für eine umfassende Toleranz in Religionsfragen.

John Locke dient Geier als Ausgangspunkt für die weitere Entwicklung der Aufklärung, an dem sich die nachfolgenden Autoren nicht nur orientierten, sondern auch messen lassen müssen: Er trifft eine Auswahl repräsentativer Aufklärer und stellt in der Folge Anthony Ashley-Cooper, 3. Earl of Shaftesbury vor, dessen satirisches Werk er unter den Titel „Die Wahrheit kann jedes Licht vertragen“ setzt. „Lernen wir lachen“ exemplifiziert Geier als Leitspruch Shaftesburys, der stark durch Locke beeinflusst wurde, allerdings seine eigene Philosophie auch gerade in Abgrenzung zu seinem Mentor entwickelt hat und sich in seinen Schriften gegen dessen ‚Tabula Rasa‘-Theorie wendet. Shaftesbury wird als „Gentleman mit den hochkultivierten Gaben der Tugend, Lebensklugheit und guten Lebensart“ skizziert.

Das nächste aufklärerische Leuchtfeuer setzt Geier bereits auf dem europäischen Festland. Unter „Der Mensch ist das Werk der Natur“ thematisiert er die Gesamtheit der „bösen französischen Philosophen“: Voltaire, Denis Diderot, Jean-Jacques Rousseau und Jean-Baptiste le Rond d’Alembert. Hinzu tritt die „Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers“, in der das gesamte Wissen der Zeit gesammelt wurde und die Welt nach Wissenschaften und Erfahrungen neustrukturiert wird – und nicht mehr nach religiösen Kriterien. Statt Kirche und Staat wollten die Aufklärer „nur noch ein Gesetz anerkennen“: das „Gesetz der Natur“. Wieder dient Geier an dieser Stelle John Locke als Fixpunkt, dessen Ideen durch Voltaire auf das Festland exportiert wurden.

So arbeitet sich Manfred Geier durch die Stationen der Aufklärung: Weiter geht es Richtung Deutschland mit dem jüdischen Aufklärer und „deutschen Sokrates“ Moses Mendelssohn und natürlich dem unverzichtbaren Immanuel Kant – dem zweiten Fixstern dieser Darstellung. Gerade im Kant-Kapitel läuft Geier, der bereits mit „Kants Welt“ eine hervorragende Biografie vorgelegt hat, zur Hochform auf und stellt die ungebrochene Aktualität der Gedanken heraus. Als Aufhänger dient ihm dabei zunächst die Debatte um den angeblichen Unterschied der europäischen und amerikanischen Mentalität infolge der Anschläge des 11. Septembers, die sich im Laufe der Aufklärung entwickelt habe. Geier nutzt diese Diskussion jedoch lediglich als Anstoß und entwickelt aus ihr eine übergreifende Aktualität Kant’schen Gedankenguts, indem er die Überlegungen zum Verhältnis von Politik und Moral in den heutigen Rahmen einpasst. Die Gegenwärtigkeit von Kants Gedanken macht er darüber hinaus durch die Bezüglichkeit des Werkes von Hannah Arendt und Karl Popper deutlich.

Während weder die Existenz der Abhandlungen über Locke und Voltaire, Mendelssohn und Kant zu überraschen weiß, verhält es sich mit dem Kapitel über Olympe de Gouges anders, die mit ihrem Diktum „Mann, bist du fähig, gerecht zu sein?“ als frühe Frauenrechtlerin auftritt. Sie plädiert für Freiheit und Menschenrechte und argumentiert vernunftbezogen für die Gleichstellung der Frau. „Die Frau hat das Recht, das Schafott zu besteigen. Sie muß gleichermaßen das Recht haben, die Rednertribüne zu besteigen“, schrieb Olympe de Gouges spöttelnd – und sah damit bereits ihr eigenes Schicksal voraus: Wie so viele endete auch Olympe de Gouges während der jakobinischen Herrschaft Robespierres unter dem ,Lieblingsspielzeug’ Robespierres, der Guillotine.

Den Schlusspunkt setzt Geier bei Wilhelm von Humboldt, der die Theorie einer holistischen und gegenseitig bezogenen Natur auf den Bereich der Bildung und des Menschen übertrug. Dabei stand bei seinen Anstößen zur Neuordnung der Bildung im Zuge der preußischen Reformen nicht der Staat oder ein utilitaristisches Nützlichkeitsdenken im Vordergrund, sondern der Mensch als solcher, als Individuum, das die „höchste und proportionirlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen“ anstreben solle. Wiederum stellt Geier hier den Gegenwartsbezug her: In einer Zeit, in der die Instanz der Universität einem profitorientierten Denken unterworfen wird und zunehmend weniger als Zentrum der Bildung sondern der Ausbildung verstanden wird, täte eine Rückbesinnung auf Wilhelm von Humboldt gegen den akademischen Kapitalismus zweifelsohne gut.

„Aufklärung. Das europäische Projekt“ bietet einen fundierten Überblick über die Entstehung, den Fortgang und die Aktualität der Aufklärung. Gerade der letzte Punkt ist es, der das Buch Manfred Geiers dabei so wichtig macht: Insbesondere der Gegenwartsbezug zeigt die anhaltende Bedeutung des aufklärerischen Gedankenguts und das ungebrochen Prozesshafte. Das Buch muss somit zugleich auch als Appell verstanden werden: Geier führt uns den selbstlosen Mut der Aufklärer vor Augen, die nicht davor zurückscheuten, für ihre Ansichten ins Gefängnis gesperrt oder gar getötet zu werden – ein bedingungsloser Idealismus für den individuellen Glauben, wie er heute allenfalls selten zu finden ist.

Beeindruckend sind die Beherrschung und der Überblick Geiers über den umfangreichen Stoff. So ist es ihm möglich, eine ebenso fundierte wie knapp-konzentrierte Einführung in die Philosophiegeschichte zu bieten und zugleich notwendige Brücken zwischen den einzelnen Akteuren der Aufklärung zu schlagen. Dadurch wird das Buch ebenso lesens- wie lobenswert. Schließlich muss auch heute noch Tag für Tag der Kant’sche Leitspruch gelten: „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“

Titelbild

Manfred Geier: Aufklärung. Das europäische Projekt.
Rowohlt Verlag, Reinbek 2012.
415 Seiten, 24,95 EUR.
ISBN-13: 9783498025182

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