Ein Geist, an dem sich die Geister scheiden

„Spuren und Schneisen“, Ernst Kellers philologisches Vermächtnis umgreift die Ernst-Jünger-Forschung des 20. Jahrhunderts

Von Veit Justus RollmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Veit Justus Rollmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Monumentale verkörpert die Unmöglichkeit, übersehen zu werden. Ganz gleich ob Statue, Stele oder Studie, das Monumentale überragt, sticht heraus und zwingt zur Wahrnehmung. Ernst Kellers literaturwissenschaftliches Erbe, dem neben dem monumentalen auch der Charakter des Lebenswerkes eignet, fasst nicht nur die vielen Stimmen der Ernst-Jünger-Interpreten vom Standpunkt eines objektiven und sachkundigen Beobachters zusammen; „Spuren und Schneisen“ liefert diese Synthesis je aufs Neue, indem Kapitel für Kapitel und je nach dessen Gegenstand die Interpreten in anderer Gewichtung und Zusammenstellung präsentiert werden. Wie ein Chorleiter gruppiert Keller die vielen Einzelstimmen nach Vorgabe des Themas um. Das Spektrum der Themen begegnet in Form gliedernder Oberbegriffe wie etwa Technik, Gesamtdarstellungen, Ästhetik, Literatur, Metaphysik und dem überragenden Teilstück, das sich mit den Motiven des Jünger’schen Schreibens befasst. Diese Gliederung verästelt sich weiter in Kapitel und Paragrafen, denen der Verfasser häufig Überschriften in Form prägnanter Thesen gibt; gleichsam als Kondensat der jeweiligen sekundärliterarischen Auffassung.

Der Vergleich Ernst Kellers mit dem Leiter eines Chores liegt noch aus einem weiteren Grund nahe, da der Dirigent der Stimmen aus der Sekundärliteratur wenn überhaupt, dann leise und für den Rezipienten kaum vernehmbar mitsingt. Auch bei Kellers Forschungsüberblick zu Jünger im 20. Jahrhundert muss man beim verinnerlichten Hören der Lektüre schon recht feine Ohren haben, um die leisen Töne des Verfassers selbst, seine eigene Sicht der Jüngerschen Primärtexte wahrzunehmen. Wenn man eine Wertung seitens des Verfassers vernimmt, dann meist in Form von Adjektiven, die den jeweils referierten Jünger Forscher und sein Werk begleiten. Dann ist von einem „originellen Beitrag“, nicht nur von Beitrag oder Analyse die Rede, eine Studie wird als „ausgreifend“ eingeführt und eine Untersuchung begegnet als „grundlegend, eine neue Sicht erschließend“. Neben diesen wertenden Stellungnahmen hinterlässt Ernst Keller, der Leser der vielen Spuren, in „Spuren und Schneisen“ jedoch selbst keine interpretatorischen Fährten.

Ernst Jünger zählt zu den facettenreichsten und schillerndsten literarischen Persönlichkeiten des letzten Jahrhunderts. Viele dieser Facetten provozieren die Auseinandersetzung und fordern den kritischen Blick. Jüngers Werk ähnelt dem Kristall, dessen Flächen die Strahlungen des Lichts auf vielfältige Weise zu brechen vermögen. Je nach Perspektive des Betrachters erscheint dieses Werk dabei in je anderer Färbung. In holzschnittartiger Vereinfachung dargestellt, zeigt sich Jünger dem einen primär als der hochdekorierte im Feuer vieler Fronten getaufte Metaphysiker von Erz, Blut und Scholle und als solcher als ein bereitwilliger Wegbereiter des NS Regimes. Andererseits begegnet er ihm als dessen subtiler Gegner. Selbst wenn man die Schriften einer bestimmten Werkgruppe gesondert betrachtet – etwa jene, auf den Kriegstagebüchern aufbauenden Werke wie „In Stahlgewittern“, „Feuer und Blut“, „Das Wäldchen 125“ und „Sturm“ – stößt man auf eine Pluralität der Standpunkte, die eine Vielfalt der Deutungen möglich, ja notwendig macht. Um diese Vielzahl möglicher Ansätze, Blickrichtungen und Wertungen in den Blick zu bekommen, erweist sich die von Ernst Keller geleistete Arbeit als mächtiges Organon.

Ein Ärgernis ist der Auftakt, den die Redakteure des Aisthesis Verlags für die einleitenden, teils entschuldigenden Worte des Vorworts gewählt haben. Ob die Frage erlaubt ist, weshalb sich jemand noch im 21. Jahrhundert mit Ernst Jünger beschäftigt sei dahingestellt. Fragen kann man Vieles. Eine Notwendigkeit oder auch nur Berechtigung, die Frage zu stellen, „was einen integeren Wissenschaftler wie Ernst Keller dazu bewogen hat, sich ausgerechnet mit Ernst Jünger zu beschäftigen“, ist hingegen schlicht nicht zu erkennen. Ernst Jünger ist mit Sicherheit und auch zu Recht ein umstrittener Autor. Der Streit um die richtige Einordnung seiner Autorenperson und seines Werkes ist schließlich Gegenstand des 628 Seiten starken Keller’schen Opus. Man kann sich kritisch, ablehnend, oder auch mit Zustimmung zu Jüngers Schriften verhalten. Sich als Literaturwissenschaftler in keiner Weise zu ihm zu verhalten, ist hingegen Ignoranz. Jeder Literaturwissenschaftler und Interpret setzt Schwerpunkte und mit allem kann man sich nicht eingehend befassen. Dessen ungeachtet kann gerade für einen integeren, seriösen Wissenschaftler die Ignoranz einem Autor wie Erst Jünger gegenüber kein Gebot der political correctness sein. Man mag Jüngers Völkerschlacht Poesie, seine Kälte und insonderheit seine politische Publizistik eine historisch hochproblematische und brisante Zumutung nennen. Dennoch ist ihr Verfasser kein mit brauner Tinte daher sudelnder Schreiber von NS-Dramen oder Thingspielen, für welche der Giftschrank der Fachbereichsbibliotheken noch zu gut ist.

Dennoch kann diese Kleinigkeit einer einleitenden Frage in keiner Weise den Gesamteindruck schmälern, den „Spuren und Schneisen“ beim Leser hinterlässt. Aus Fragmenten, teilweise aus Stichworten ein durchweg gut lesbares Buch zu verfertigen, ist eine editorische Leistung, die Respekt verdient. Was man vermisst, ist die Summa, die abschließende Stellungnahme Ernst Kellers selbst; das ganz persönliche Konzentrat einer jahrelangen, forschenden Beschäftigung mit Jüngers Werk und seiner Interpretation.

Gerade in Anbetracht der Arbeit, die der Aisthesis Verlag bei der Redaktion der Texte aus Kellers Nachlass ohne Zutun des Autors geleistet hat, ist es bedauerlich, dass dabei unterlassen wurde, dem Leser mit einem Sachregister neben der thematischen Gliederung der Kapitel ein weiteres Hilfsmittel zur Navigation durch die materialreiche Studie an die Hand zu geben. Die Erstellung eines Stichwortregisters von „Artamanen“ über „Gnosis“ und „Parsismus“ bis hin zu „Zarathustra“ („Zoroaster“, siehe „Parsismus“) – als Ergänzung des Personenregisters und der umfassenden Bibliographie – hätte die geleistete Mehrarbeit mit weiterem Mehrwert vergolten.

Ernst Jünger hinterließ ein gewaltiges, teils gewalttätiges schriftstellerisches Erbe, Ernst Keller einen ebenso gewaltigen germanistischen Nachlass zu eben diesem Werk. Kurz: Mit „Spuren und Schneisen. Ernst Jünger: Lesarten im 20. Jahrhundert“ erweist sich der Aisthesis Verlag als ebenso kundiger wie würdiger Nachlassverwalter.

Titelbild

Ernst Keller: Spuren und Schneisen. Ernst Jünger: Lesarten im 20. Jahrhundert.
Aisthesis Verlag, Bielefeld 2011.
628 Seiten, 58,00 EUR.
ISBN-13: 9783895288296

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch