Die Affinität von Karl Kraus und Theodor W. Adorno

Irina Djassemy hat die Geschichte des autoritären Charakters in der „Fackel“ untersucht

Von Fabian KettnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Fabian Kettner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„All das ist wenig nach meinem Geschmack“, so äußerte sich der kritische Rationalist und Adorno-Gegner Karl R. Popper in einem Interview mit Herbert Marcuse einst über Theodor W. Adornos Arbeiten zu Musik, Literatur und Kultur. „Für mich lesen sie sich wie Imitationen von Karl Kraus, aber wie schlechte Imitationen, weil ihnen der Kraus’sche Sinn für Humor abgeht.“ Das, was Popper gemütvoll „Humor“ nannte und womit er wahrscheinlich meinte, dass man Kritik nicht ‚zu verbissen‘ und nicht ‚zu negativ‘ üben sollte, das ging dem „Antijournalisten“ (Thomas Mann) Karl Kraus bestimmt ab.

Nach ihrer Dissertation mit dem schönen und programmatischen Titel „Der ‚Productivgehalt kritischer Zerstörerarbeit‘. Kulturkritik bei Karl Kraus und Theodor W. Adorno“ aus dem Jahre 2002 hat Irina Djassemy neun Jahre später einen zweiten Band zum Thema nachgelegt. Der Anlass ist jedoch ein trauriger: Die Autorin nahm sich im Jahre 2009 das Leben. Freunde haben „Die verfolgende Unschuld. Zur Geschichte des autoritären Charakters in der Darstellung von Karl Kraus“ post mortem herausgegeben. Was für ein Verlust Djassemys Suizid nicht nur für die Karl-Kraus-Forschung, sondern auch für eingreifendes kritisches Denken ist, mit diesem Bedauern bleibt man nach der Lektüre beider Bücher zurück.

„Der ‚Productivgehalt kritischer Zerstörerarbeit‘“ war vieles in einem: eine hervorragende Einführung sowohl in das Werk von Kraus als auch von Adorno, nicht nur eine Reproduktion der Werke, sondern das Nachbeben ihrer kritischen „Fiber“ (Adorno), eine Korrektur an Interpretationen, die beide Autoren der konservativen Kulturkritik zuschlagen und eine Schärfung der Begriffe der Gesellschaftskritik überhaupt. Djassemys Studien waren ein unverhoffter Glücksfall in der Adorno-Sekundärliteratur, zumal 2002, als Adornos 100. Geburtstag ein Jahr später mit vielen Neuerscheinungen vorbereitet und dann zugeschüttet wurde. Djassemy ging es um die Komplementarität des Denkens von Kraus und Adorno, um deren zentrale „Affinität“. In „Die verfolgende Unschuld“ steht Karl Kraus im Mittelpunkt. Verweise auf das Werk Adornos gibt es gleichwohl genug. Djassemy betont zu Beginn die Wichtigkeit, „der literarischen Qualität der Fackel gerecht zu werden“. Dafür wollte sie sich nicht darauf beschränken, „unter Missachtung der Form einen argumentativ-kritischen Inhalt zu extrahieren“. In ihrer neueren Studie wird daher das literarische Werk Kraus’ wesentlich extensiver durchmustert.

Djassemy unterteilt die annähernd 40 Jahre „Die Fackel“ in vier Phasen: in die Jahre der Monarchie von 1899 bis 1914 („Der unmündige Bürger“), in die des Ersten Weltkrieges von 1914 bis 1918 („Die verfolgende Unschuld“), in die der ersten österreichischen Republik von 1919 bis 1932 („Kasmader und die Demokratie“) und die des Nationalsozialismus ab 1933 („Dritte Walpurgisnacht“).

Die erste Phase steht im Zeichen der Aufsätze, die später unter dem Titel „Sittlichkeit und Kriminalität“ zusammengefasst wurden. Der autoritäre Charakter wandelt sich mit den autoritären gesellschaftlichen Strukturen, denen er sich nachbildet. Zwischen 1899 und 1914 waren sie laut Djassemy noch „feudal-paternalistisch“. Dementsprechend ist Kraus’ Gegenstand der Machtwahn und das autoritäre Verhalten der österreichischen Justiz sowie ihrer Beobachter in Gestalt von Presse und Privatpersonen. Er schrieb an gegen eine frauenfeindliche Kultur und arbeitete immer wieder den immanenten Widerspruch der Justiz heraus, ausschließlich restriktiv auf Klassen- und Geschlechtskonflikte zu reagieren, anstatt diese zu lösen. Zudem konstatierte er, dass die strafenden Organe Schaden gar nicht verhindern wollten, sondern sich über jeden Anlass freuten, ihre Strafsucht ausagieren zu können. Damit ist ein Aspekt des autoritären Charakters herausgearbeitet; der zweite schwang bereits mit, nämlich seine übertriebene Beschäftigung mit sexuellen Ausschweifungen. Djassemy ist es stets auch darum zu tun, Kraus’ Ziele zu identifizieren und festzuhalten, was er auf seinem Gebiet geleistet habe. In dieser Phase habe er mit seinem literarischen Schaffen die Autoritätshörigkeit auflösen wollen. Tatsächlich habe er einem „Ticketdenken“ (so nannten es Adorno und Max Horkheimer später in der „Dialektik der Aufklärung“) entgegengewirkt sowie den Kontrast zwischen Anspruch und Wirklichkeit der österreichischen Rechtspflege herausgearbeitet. Allerdings sei „Die Fackel“ in ihrer Frühzeit von ihrem späteren „satirischen Stil eines soziokulturellen Erkenntnismediums“ noch „weit entfernt“.

Dem Werk der zweiten Phase bescheinigt Djassemy, dass die progressiven Tendenzen – gerade vor der Negativfolie von Kraus’ Antisemitismus – stärker geworden seien. Der Erste Weltkrieg habe einen Wandel von Kraus’ Kulturkritik bewirkt. Nicht zuletzt habe gerade die Zensur eine „Verfeinerung der satirischen Darstellung“ bewirkt, die dann für ihn typisch wurde: das kommentarlose Zitieren, die Montage von Äußerungen und die immanente Kritik. Angesichts der Propaganda und der freiwilligen Gleichschaltung der Massen im Ersten Weltkrieg habe Kraus auf das Bewusstsein der Menschen einwirken wollen. Seine Sprachkritik habe Distanz zur Sprache der Öffentlichkeit erzeugt und damit einer Besinnung ermöglicht. Seine Kapitalismuskritik, die in den vorhergehenden Jahren immer wieder in zeittypischen antisemitischen Phrasen sich erschöpfte, wendet sich laut Djassemy vermehrt der Versehrung des Individuums zu – das zunehmend keines mehr sein will.

In der dritten Phase seines Werkes habe Kraus dies fortgeführt, indem er die Republik als ebenso nötige wie lästige, aber auch praktische Instanz begriffen habe, um das Leben der Menschen zu regeln. Die Chance des republikanischen Staates wurde aber nicht ergriffen: Zunehmend habe Kraus, so die Autorin, die Faschisierung der Gesellschaft dokumentiert und zentrale Elemente des potenziell faschistischen Subjekts herausgearbeitet.

Man sieht, wie Kraus in Djassemys Darstellung als Autorsubjekt zunehmend schwächer wird: vom Literaten zum Dokumentaristen. Die vierte Phase steht unter dem Zeichen des langen Verstummens Kraus’ angesichts des Nationalsozialismus. Er habe die Grenzen der Satire erkannt – sei deswegen aber nicht verstummt, sondern habe diese Grenzen thematisiert und dadurch aufklärerisch gewirkt.

Djassemy konstatiert aber auch andere Grenzen Kraus’. Dass es ihm wie dem „Nörgler“ aus „Die letzten Tage der Menschheit“ an „politischen und soziologischen Kategorien“ mangle, das hält sie immer wieder fest. Nicht nur durch die Häufung des Befundes entsteht so ein Unbehagen. Wenn Kraus’ Werk von „weitreichender Unkenntnis gesellschaftstheoretischer Konzepte wie auch aktueller Entwicklungen“ geprägt ist, dann kann die Treffsicherheit seiner Kritik nur als glücklicher Zufall eines Blinden gelten. Wenn „die Fackel geradezu als Illustration einer psychoanalytischen Theorie der destruktiven Charakterstruktur“ gelten kann, Bilder „die politische Analyse“ aber „nicht ersetzen“ können, dafür aber immerhin „in wirksamer Weise ergänzen und unterstützen“, verhält sich Kraus’ Werk dann zur Kritischen Theorie wie die katholische Kirche zur Hegel’schen Philosophie: Bilder zur Anschauung für die Doofen in den Kirchenbänken – der entfaltete Begriff für die Philosophen in der Akademie? Sieht so aus: Kraus’ Illustrationen könnten, so Djassemy, gesellschaftliche „Zusammenhänge der ästhetischen Erfahrung zugänglich“ machen. Sie wirkten, „indem sie Bewusstseinsschichten erreichen, in denen Autonomie, Menschenwürde und Vernunft nicht als Ideale oder gar Schlagworte, sondern als impulsive Bedürfnisse erfahren werden.“ Praktisch, wenn Kraus dort reinkommt, wo rationale Reflexion am mentalen Türsteher scheitert. Merkwürdig aber die Vorstellung, man könnte „Die Fackel“ als U-Boot mit Adorno im Torpedorohr verwenden.

Seine Analyse stoße „immer dort an ihre Grenzen, wo wissenschaftlich exakte Begriffe und ihr theoretischer Kontext vonnöten sind, um die nazistische Gesellschaft angemessen darzustellen; sie ‚ahnt‘ mehr, als sie auf den Begriff zu bringen“. Nun verwenden Adepten der Kritischen Theorie gerne Hegels Redeweise von „auf den Begriff bringen“, doch verstehen sie – weil sie „Begriff“ mit „Wort“ verwechseln – darunter etwas anderes als Hegel, nämlich letzten Endes nur „mal Tacheles reden“ oder „Butter bei die Fische tun“. Ist das nun die Differenz: Kraus’ „physiognomisches Verfahren“ einerseits – Adornos „gesellschaftstheoretische Analyse der Ursachen“ andererseits? Ist Kraus zu lesen dann nicht überflüssig, und sollte man nicht lieber gleich zu Adorno greifen? Wozu sich die literarische Uferlosigkeit der „Fackel“ antun – außer spaßeshalber und zur kulturellen Zerstreuung nach der soziologischen Arbeit – wenn man auch einen Adorno-Aufsatz lesen kann? Dass Djassemy es so nicht gemeint haben kann, das weiß man aus persönlichen Gesprächen; aber sie ließ diese Flanke offen. In ihrer Dissertation verfolgte sie noch einen anderen Weg, oder zumindest ahnte sie eine Spur. Da ging es zwischendurch immer wieder mal um „die subversiven, utopischen Gehalte der Sprache“, um einen „Überschuß an geistiger Erfahrung, den die Sprache jenseits ihres instrumentellen Charakters ermöglicht“. Auf die Nachfrage, was es denn heißen soll, dass „Sprache nicht bloß ein beliebiges Werkzeug der Erkenntnis sein soll, sondern als Objektivation historischer Erfahrung selbst Erkenntnis enthält“, antwortete Djassemy zurückhaltend, ja ausweichend – verständlicherweise, denn hier wird es diffizil spekulativ. Beantworten wird sie solche Fragen nun leider gar nicht mehr.

Titelbild

Irina Djassemy: Die verfolgende Unschuld. Zur Geschichte des autoritären Charakters in der Darstellung von Karl Kraus.
Böhlau Verlag, Wien 2011.
257 Seiten, 35,00 EUR.
ISBN-13: 9783205786153

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch